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Die Bilder meines Vaters
"In den letzten Jahren habe ich viel Zeit mit Sortieren verbracht. Ich habe Fotos archiviert, von denen ich zu Anfang so gut wie nichts wusste und jetzt fast alles weiß. Ich habe fünfzig Jahre alte Bilder so gut kennengelernt, dass sie sich inzwischen fast wie meine eigenen anfühlen. Trotzdem erscheint es mir komisch, dass es genau diese Fotos jetzt in Buchform zu kaufen gibt. Dabei hatte ich die Idee schon vor Jahren. Ich wollte ein Buch machen – ich wusste nur nicht wie. Als mein Vater 1997 starb, hinterließ er ein umfangreiches Erbe. Während seiner Arbeit als Journalist bei verschiedenen Wirtschaftsmagazinen waren zehntausende Fotografien entstanden. Einige davon hatte er er zur Illustration seiner eigenen Artikel verwendet, der weitaus größte Teil aber entstand allein durch seine Begeisterung für die Fotografie. Schon als Kind wusste ich von dieser Begeisterung, die ich bis heute mit ihm teile. Viele Abende stand ich mit ihm in der Dunkelkammer und lernte wie das „mit dem Fotografieren“ eigentlich funktioniert. Er erzählte von den Begegnungen und Momenten, die er auf seinen vielen Reisen festhielt und dann in Form von unzähligen Negativen in den Keller unseres Hauses in München mitbrachte. Wer die fremden Menschen auf den Fotos waren, wusste ich nicht. Ich wusste auch nicht, was genau an ihnen so interessant sein sollte. Das einzige, was mich als kleinen Jungen interessierte, waren die Bilder von berühmten Persönlichkeiten. Mit denen konnte ich vor meinen Freunden in der Schule angeben und erzählen, dass mein Vater mal bei einem Beatles-Konzert gewesen war. Die Systematisierung eines Lebens Fast zehn Jahre nach seinem Tod – inzwischen hatte ich das Fotografieren selbst zu meinem Beruf gemacht – stand ich in unserem alten Haus und half meiner Mutter beim Aufräumen für ihren geplanten Umzug. Wir wühlten uns durch den Dachboden und stießen dabei auch auf die Hinterlassenschaften meines Vaters. Zum Schluss brachte ich drei Umzugskartons voller unsortierter Negative in meine Wohnung, zum Teil noch in ungeöffneten Originalumschlägen. Manchmal fehlten einzelne Negative eines ganzen Films, manchmal waren wenige Fotos in einem Umschlag stichwortartig beschriftet. Vereinzelt lagen Zettel mit Notizen in Kartons mit bestimmten Motiven. Ich war in eine Arbeit hineingeplatzt, die noch lange nicht beendet war. Eine Ordnung war nicht zu erkennen. Zwischen all dem Durcheinander ein Buch. Eine Art Fotoalbum, so groß wie zwei Seiten Schreibmaschinenpapier. Sorgfältig gebunden und sortiert. Hier hatte mein Vater die Fotos zusammengestellt, die er für seine Besten hielt. Sogar ein Deckblatt hatte er gestaltet, „Dietmar Gottschall - Fotografien 1965 bis 1980“, darunter eine Farbkopie seines damaligen Presseausweises. Dieses Buch sollte mein Begleiter für die nächsten Jahre werden, mein Leitfaden für die Arbeit, die ich für meinen Vater zu Ende bringen wollte. Die systematische Archivierung eines Lebens in Bildern, das größtenteils vor meiner Zeit stattgefunden hat. Eine Aufarbeitung von Geschichten, die mein Vater erlebt hatte, als ich nicht dabei war. Voller Begeisterung sah ich mir jedes einzelne Bild an. Mir war klar, dass ich „die besten Fotos“ nur finden könnte, wenn ich alle gesehen hatte. Fast täglich beschäftigte ich mich mit Zeiten, die fünfzig Jahre zurücklagen. Nach über einem Jahr war ich frustriert und erschöpft. Ich hatte tausende Fotos auf meinem Computer gespeichert und wusste immer noch nicht, was ich überhaupt mit ihnen anfangen sollte. Ich wollte die begonnene Arbeit meines Vaters zu Ende bringen, das war von Anfang an klar, aber ich hatte keine Ahnung wie. Also erzählte ich erstmalig Freunden und Kollegen von meinem Fund und begann, meine bis dahin gefundenen Lieblingsbilder zusammenzustellen. Ich wollte endlich etwas zeigen, meine Entdeckung mit anderen teilen. Anfang 2008 veröffentlichte ich eine Handvoll Fotos auf jetzt.de und beschrieb in kurzen Sätzen die dazugehörige Geschichte. Die Reaktionen waren überwältigend. Täglich erreichten mich E-Mails, die mich ermutigten weiterzumachen. Es folgten Presseberichte über das Projekt und plötzlich stand ich in Kontakt mit Freunden und Kollegen meines Vaters, Museen und Verlagen. Nach wenigen Wochen war klar: Es kann ein Buch entstehen. Ein Querschnitt durch das fotografische Werk eines Mannes, der sein Geld nie mit Bildern, sondern mit dem Schreiben verdiente. Ein völlig unbekannter Name in der Welt der Fotografie. Eine Chronik des Alltags der Sechziger- bis Achtzigerjahre in Deutschland. In Schwarzweiß. Endlich war das Ziel konkret, also machte ich weiter. Ich versuchte, durch Gespräche Zusammenhänge wiederherzustellen und wurde zu einem Detektiv der Vergangenheit. Denn nicht nur die Menge der Fotos machte es schwer, eine Auswahl zu treffen, ich musste auch versuchen Fakten zu den abgebildeten Motiven zu sammeln. Kein Mensch würde ein Buch kaufen, das nur zusammenhanglos völlig beliebige Bilder enthält. Straßennamen, Autokennzeichen und Plakate auf den Fotos halfen mir dabei. Ich las über die Kleidung und die politischen Verhältnisse der damaligen Zeit, versuchte, anhand von alten Zeitungsartikeln Szenen wieder zu erkennen und trug so Informationen zu immer mehr Bildern zusammen. Doch nicht nur mein Geschichtswissen wurde größer, ich lernte auch meinen Vater besser kennen. Endlich verstand ich, warum er bestimmte Dinge fotografiert und was er erlebt hatte während ich als Kind zuhause Comics las. Es lag nun vor mir – Bild für Bild. Die Maschinen liefen an Bei der Auswahl für die geplante Veröffentlichung ließ mir der Verlag alle Freiheiten. Mein Ziel war es, möglichst nah an der von meinem Vater zusammengestellten Ordnung zu bleiben. Ich ergänzte seine Zusammenstellung nur durch Bilder, die ich erst während meiner Archivierungsarbeit entdeckte. So entstand in vier Jahren eine Sammlung von knapp 150 Fotos - ausgewählt aus ungefähr 15.000. Nun begann der schöne Teil der Arbeit. Ich legte die Reihenfolge im Buch fest und verschickte erste Entwürfe an meine Freunde. Als Antwort bekam ich Anregungen und weitere Informationen zu einzelnen Fotos. Ich saß mit Mustern der verschiedensten Papiersorten an meinem Küchentisch und überlegte welche die Schönsten wären. Ich diskutierte die Gestaltung mit dem Verlag und entschied mich für ein Bild für das Cover. Auch ein Titel war schnell gefunden. Da nur Motive aus Deutschland berücksichtigt werden sollten, wählte ich die naheliegendste Überschrift. Vor zwei Monaten dann schließlich fand ich mich an einem verschneiten Vormittag in einem kleinen Dorf in der ostdeutschen Provinz wieder. Hier sollte das Buch gedruckt werden und ich sollte bei den ersten Seiten dabei sein. Ich hatte mich einige Wochen nicht mehr damit auseinandergesetzt, ich wollte möglichst unvorbelastet die ersten Drucke in Empfang nehmen. Als die riesigen Maschinen anliefen und im Sekundentakt große Bögen mit den von mir auswählten Fotos ausspuckten, empfand ich zum ersten Mal seit Beginn der Arbeit ein Gefühl der Zufriedenheit. Ich sah mir alles genau an, kritisierte ein paar Kleinigkeiten und fuhr mit Vorfreude auf das fertige Buch zurück nach Hause. Als mich das erste Exemplar erreichte, traute ich mich zunächst kaum es zu öffnen. Es kam mir unwirklich vor, nach so langer Zeit wirklich ein Buch vor mir liegen zu haben. Außerdem hatte ich Angst vor einer Enttäuschung. Jetzt liegt es in meinem Schlafzimmer. Stapelweise. Direkt neben dem Band, den mein Vater vor über zehn Jahren zusammengestellt hatte. Ich bin sehr glücklich darüber. Er wäre es auch."
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Deutsche Bilder: Fotografien 1965-1980 ist im Mitteldeutschen Verlag erschienen und kostet 28 Euro. jetzt.de verlost drei Exemplare von "Deutsche Bilder". Wer eines gewinnen möchte, schreibt eine Mail an muetze@jetzt.de