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Ein ewiges Hin und Her
Die Lektion mit den Warteschlangen lerne ich schnell und schmerzhaft. In der Vorhalle des Regensburger Hauptbahnhofs teilen sich die Pendler frühmorgens für ihre letzten Besorgungen in vier Schlangen. Es gibt die Kaffeeschlange vor dem Imbiss, die Zeitungsschlange vor dem Kiosk, die Ticketschlange vor dem Automaten und die Brezenschlange vor dem Bäcker. Was ich am ersten Morgen noch nicht weiß: Die Brezenschlange ist verführerisch kurz, bewegt sich aber so gut wie gar nicht, weil die Bäckersfrau jedem Kunden ausgiebig einen guten Morgen wünscht. Hier stehen nur die Pendler, die zusätzlich zu ihrem Rollkoffer ein gemütliches Zeitpolster in den Bahnhof mitgebracht haben. Kann ich als abgehetzter Neuling natürlich nicht ahnen. Ich will von der Bäckerin nur schnell einen Kaffee, weil in vier Minuten mein Zug fährt. Mit einem Sprint erwische ich ihn noch. Die heiße Brühe schwappt mir in den Jackenärmel.
Um Punkt 7.03 Uhr schiebt sich die Regionalbahn aus der Stadt, die nun eine Woche lang mein Wohnort sein wird. Regensburg ist ausnehmend hübsch, schade eigentlich, dass ich nur frühmorgens und spätabends hier sein werde. Aber das war ja die Idee: jeden Morgen und jeden Abend zwei Stunden von Haustür zu Bürotür pendeln. Morgens mit der Bahn nach München und abends wieder zurück. Eine Woche lang um sechs Uhr aufstehen und um 21 Uhr zurückkommen. So wie es in Deutschland viele Menschen täglich tun. Die Idee war, probeweise zwischen Freizeit und Arbeitszeit je eine dicke Scheibe von 90 Minuten Zugfahrt zu schieben. Mal sehen, was das mit einem macht.
Noch bevor ich mich an diesem Morgen in die falsche Schlange stelle, macht mich auf dem Weg zum Bahnhof ein Gedanke nachdenklich: Wann habe ich eigentlich das letzte Mal Morgentau gesehen? Normalerweise verlasse ich das Haus kurz nach neun. Da haben manche Menschen schon Arzttermine hinter sich, die ersten Handwerker machen Brotzeit, die Welt hat ihre Reiseflughöhe erreicht. Aber jetzt, an einem Montag um 6.31 Uhr? Höre ich nur meine eigenen Schritte, die Sonne blinzelt kühl und blass irgendwo hinter der Regensburger Altstadt hervor. Ein schönes Gefühl: Die Sonne und ich haben uns schon lang nicht mehr so früh gesehen.
Im Zug bin ich zwar neu, aber nicht komplett unvorbereitet. Ich stelle eine Tupperbox mit Brötchen und den Kaffeebecher auf den kleinen Tisch vor mir im Großraumabteil. Hier in Regensburg ist der zweistöckige Zug noch fast leer, ich habe eine Vierersitzgruppe für mich. Der kleine Tisch wird ab sofort mein mobiler Frühstückstisch sein. Anderthalb Stunden Kaffee, Brötchen, Zeitung und sonst nix — den Luxus gönne ich mir sonst nur am Wochenende. Wenn ich es so mit meinem neugierigen Pendlerblick betrachte, ist es hier sogar fast wie in meiner Küche; nur dass die Sitze besser gepolstert sind, die Fenster größer und die Aussicht wunderschön.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Unser Autor am Bahnsteig.
Kurz nach acht nähern wir uns München, das erkenne ich schon lange vor der Durchsage an den Brückenpfeilern: Die Graffitis werden besser. Nach anderthalb Stunden Fahrt habe ich auch die zweite Lektion gelernt. Nur ein Anfänger oder eine Koffein-Mimose bestellt für neunzig Minuten Zugfahrt einen kleinen Kaffee. Schon kurz vor Freising hat er seine Wirkung verloren, und ich verdöse das letzte Drittel der Fahrt. Außerdem dauert die Zugfahrt länger, als mir eine Zeitung reicht. Ich habe schon die hinteren Seiten des Wirtschaftsteils gelesen. Merken: Früher am Bahnhof sein, deutlich mehr Kaffee, zwei Zeitungen oder ein Buch mitnehmen.
Der Zug ist jetzt nicht nur morgens mein Frühstückstisch, er ist abends auch mein Wohnzimmer. Und das nervt gewaltig. Denn ich merke: Frisch aus dem Büro, vom Arbeitstag ausgewrungen, fällt es mir deutlich schwerer, fremde Menschen um mich zu haben. Während ich mich sonst nach Feierabend zuerst in mein Sofa fallen lasse, muss ich mich jetzt auf den letzten freien Fenstersitz quetschen. Mir gegenüber sitzt eine Asiatin im Businesskostüm, die von ihrer Aktenmappe aufblickt und skeptisch die fettige Papiertüte in meiner Hand mustert. Ich war noch bei Burger King am Münchner Hauptbahnhof und bereue, nicht noch eine zweite Tupperbox mit Broten dabeizuhaben. Es ist mir peinlich, dass ich das Großraumabteil mit meinem Frittengeruch flute. Andererseits: Was hätte ich tun sollen? Es ist 19 Uhr. Wenn ich in Regensburg ankomme, haben alle Supermärkte geschlossen. Das führt mich zu der Frage, wie man es als Pendler überhaupt schafft, seine Einkäufe zu erledigen. Geht man direkt vom Büro zum Supermarkt und schleppt dann Tüten durch den Zug? Kauft man am Wochenende alles für die ganze Woche? Ich vermute, man braucht vor allem einen toleranten Partner, der einem den Haushalt schmeißt. Als Alleinstehender kann man vier Stunden Bruttopendelzeit am Tag kaum organisieren.
Oder etwa doch? Brauche ich einfach etwas Übung, um meine ausgefranste Lebensführung so hinzukämmen, dass sie sich problemlos um meinen neuen, streng getakteten Pendleralltag schmiegt? Was ist schließlich mit all den Menschen, die ihr Privatleben über Jahre hinweg rund um stundenlange Zug- und Autofahrten stricken? Teilen die ein Geheimnis, das ich noch nicht kenne — wie bei den Warteschlangen in der Bahnhofshalle?
Tag zwei: Ein paar Leute erkenne ich vom Vortag, zum Beispiel den grauhaarigen Polizisten mit der Sporttasche. Er, ich und sieben andere Pendler stehen auf dem Bahnsteig, unsere müden Blicke gehen über die Gleise ins Unendliche, ohne sich zu kreuzen. Schade. Ich hatte gehofft, durch dieses Experiment eine neue Art der Alltagsfreundschaft zu entdecken, eine Schicksalsverbrüderung unter Pendlern, so wie ich zu meiner Nachbarin eine Freundschaft pflege, die nur darauf gründet, dass wir seit Jahren zur selben Tageszeit den Briefkasten leeren. Aber: Sie passiert leider nicht, die Verbrüderung. Auch in den nächsten Tagen nicht. Eine Woche ist einfach verdammt kurz, um Freunde zu machen. Und 7.03 Uhr verdammt früh, um überhaupt zu sprechen.
Am zweiten Abend hasse ich mein Leben. Ich bin spät aus dem Büro gekommen, zum Bahnhof gehetzt und springe gerade noch in den Zug nach Regensburg. Es ist 21 Uhr, die Waggons sind fast leer. Eigentlich wäre das angenehm, aber die Heizung ist defekt, im Abteil hat es dreißig Grad, und ich habe nichts zu trinken. Nicht mal für den Schnell-einkauf bei Burger King hat die Zeit gereicht. Noch schlimmer als eine Zugfahrt mit Hunger bei dreißig Grad: eine Zugfahrt mit Hunger bei dreißig Grad ohne Ablenkung. Ich habe mein Buch vergessen, und der Akku meines iPads ist leer. Ich kaufe ein eingeschweißtes Sandwich mit Pute und Ei, das halb so viel kostet wie mein Ticket, und döse schwitzend bis zur Ankunft in Regensburg. Der Gedanke, in derselben Stadt zu wohnen, in der ich arbeite, kommt mir zum ersten Mal so verlockend vor wie die Vorstellung, in einem Bungalow am Strand zu leben. Ich habe genug vom Hetzen und Warten, von den vielen notdürftig gefüllten, aber letztlich toten Stunden im Transit; von der fremden Taktung meines Lebens durch den Fahrplan der Bahn. Es reicht.
Und dann wird es Freitag, und etwas ist anders. Ich nehme morgens an meinem mobilen Frühstückstisch in der leeren Vierersitzgruppe Platz. Wie jeden Tag heißt ein Schaffner mich und die anderen Fahrgäste über Lautsprecher willkommen an Bord des Regionalexpress 4253 — und es passiert etwas Merkwürdiges: Anstatt wegzuhören, freue ich mich über diese hundertmal gehörte Floskel. Der Zug fühlt sich inzwischen tatsächlich an wie etwas Gemütliches, Heimeliges. Draußen regnet es, die Wiesen und Bauernhöfe stehen in braun glänzendem Matsch. Ich sitze wie immer im oberen Stockwerk des Zugs, und bei dem Regenwetter fühle ich mich unter der niedrigen Decke ein bisschen wie in einer Höhle mit Panoramafenstern. Anstatt mich wie bisher mechanisch durch zwei Zeitungen zu fressen, nehme ich ein Brötchen, lege den Kopf ans Fenster und genieße die Fahrt. Ich kenne den Weg jetzt fast auswendig und nehme den Weg zur Arbeit nicht mehr in quälend langen Minuten wahr, ich erlebe ihn in größeren Sinnabschnitten.
In Ergoldsbach blicke ich wie jeden Morgen auf die Dachziegelfabrik, die da liegt wie auf einem Kupferstich. Pünktlich nachdem ich mein erstes Brötchen gegessen habe, schiebt sich Eggmühl in mein Sichtfeld. Kurz darauf steigen die Landshuter Berufsschüler zu, und ich weiß: Jetzt wird es eine Viertelstunde lang lauter. Ich höre so lange über Kopfhörer Musik und stelle mir vor, die vorbeifliegende Landschaft sei das Video dazu. Schwer zu sagen, was genau sich getan hat. Bin ich jetzt eingependelt?
In München bin ich auf dem Weg zur Arbeit immer leicht gestresst, selbst wenn ich pünktlich bin. Ich nehme, je nach Uhrzeit und Wetter, mal die S-Bahn, mal die U-Bahn, mal das Fahrrad. Ständig muss ich auf kleine Änderungen und Verspätungen reagieren, wegen einer Baustelle einen anderen Radweg nehmen oder spontan in den Bus umsteigen. Je länger und gleichförmiger aber der Weg zur Arbeit ist, desto entspannter bin ich. Ich kann vom Zug aus zehn Kilometer weit über die Hügel blicken. In der S-Bahn gucke ich eigentlich nur aus dem Fenster, um Mitreisende auf dem Sitz gegenüber nicht anstarren zu müssen. Hier sehe ich Bauernhöfe, vor denen sich Brennholz stapelt. Einen verlassenen Bagger auf einer Wiese. Einen Maibaum neben einem Sportplatz. Ich fühle mich wie ein Dichter der Romantik, ergriffen von der Natur und angenehm klein. Der Weg zur Arbeit ist wie ein Spaziergang im Sitzen.
Kurz vor dem Münchner Hauptbahnhof packe ich zum letzten Mal meine Tupperbox in den Rucksack, der Schaffner wünscht mir und den anderen Fahrgästen übers Mikrofon „weiterhin einen angenehmen Tagesverlauf“. Ich atme ein und fühle mich gut durchlüftet, bereit für den Tag und kribbelnd vor Tatendrang. Vielleicht bin ich jetzt angekommen im Rhythmus der Pendler, so wie man beim Wandern immer erst in den Tritt kommen muss. Möglicherweise hat meine gute Laune aber auch mit dem wunderbaren Gedanken zu tun, der mich schon durch den ganzen Morgen trägt: Das mit dem Pendeln ist ab heute erst mal wieder vorbei.
Text: jan-stremmel - Foto: Tanja Kernweiss