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„Ich wollte die Gedanken eines Vergewaltigers erforschen“

Foto: Grace Gelder

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Winnie M Li ist 29 Jahre alt, als sie ein 15-jähriger Fremder während einer Wanderung verfolgt, niederringt, prügelt und schließlich vaginal und anal vergewaltigt. Seither sind zehn Jahre vergangen. Zehn Jahre, in denen Winnie, wie sie selbst sagt, sich „zwar weitgehend erholt“ hat, aber auch feststellen musste, dass ihr Leben nach der Tat nie wieder so sein wird wie früher. Ihre Vergewaltigung hat die Harvard-Absolventin psychisch krank gemacht und sie ihre Karriere im Filmgeschäft gekostet.

All das hat Winnie nun in ihrem ersten Roman „Dark Chapter“ aufgeschrieben. 2017 erschien er erstmalig in englischer Sprache, seit einigen Tagen ist er mit dem Titel „Nein“ auch auf Deutsch erhältlich. Die Hauptcharaktere im Buch sind Johnny, ein Serien-Vergewaltiger, und Vivian, eines seiner Opfer, das Winnie in jeder Hinsicht ähnlich ist. Wir haben mit der Autorin darüber gesprochen, was sie selbst erlebt hat und was sie mit ihrem Buch darüber erreichen will.

jetzt: Winnie, du bezeichnest dein Buch selbst als „Crime-Fiction“. Dabei ist „Nein“ zum Großteil nicht-fiktiv: Vivians Wesen, Leben und Erfahrungen entsprechen den deinen. Auch die geschilderte Vergewaltigung ist real so passiert. Warum dann nicht gleich die echte Geschichte aufschreiben?

Winnie M Li: Zum einen konnte ich so umgehen, über private Erfahrungen oder Kontakte zu schreiben, die die Geschichte zwar brauchte, die ich aber nicht bereit war, zu teilen. Ich hatte so viel mehr Freiheiten beim Schreiben. Zum anderen kenne ich meinen Vergewaltiger nicht – und wollte ohnehin nicht über die real-existierende Person schreiben. Ich hätte bei Non-Fiction also nie Johnnys Perspektive aufschreiben können. Die Möglichkeit, das zu tun, war aber einer der Hauptgründe, das Buch überhaupt zu verfassen.

„Ich wollte dem Täter einen Funken Menschlichkeit geben“

Weshalb wolltest du so dringend die Perspektive des Täters einnehmen?

Die Tat hat mein ganzes Leben verändert: Ich litt jahrelang unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung und Platzangst, musste mich übergeben, wann immer ich einen Jungen gesehen habe, der dem Täter auch nur leicht ähnelte. Ich konnte nicht mehr arbeiten und habe meine Karriere verloren. Erst vor einigen Jahren gelang es mir, wieder Fuß zu fassen.

Ich wollte deshalb die Gedanken eines jungen Vergewaltigers erforschen. Herausfinden, was jemanden dazu bringt, derart gewalttätig mit anderen umzugehen. Vergewaltigungen passieren ja nicht einfach so. Jemand entscheidet sich, diese Tat zu begehen. Die Gründe dafür wollte ich soweit wie möglich verstehen – und dann zeigen, dass solche Menschen nicht als Vergewaltiger geboren werden. Ich wollte dem Täter einen Funken Menschlichkeit geben.

Du hattest vor und nach der Tat nie Kontakt zu deinem Vergewaltiger. Wie kamst du dazu, ihn dir vorzustellen wie „Johnny“, einen verrohten Jungen aus schwierigen Verhältnissen?

Die Polizei durfte mir aus rechtlichen Gründen nicht viel sagen. Nur fünf Dinge erfuhr ich über den Täter: Dass er ein 15-jähriger Ire war. Dass er weder lesen noch schreiben konnte. Dass er zur Gruppe der „Traveller“ (Anm. d. Red.: Irische Volksgruppe ohne festen Wohnsitz) gehörte und dass er aus schwierigen Familienverhältnissen stammte. Außerdem legte die DNS des Täters, die sie nach der Tat auf meinem Körper fanden, nahe, dass er mit einem bereits bekannten Straftäter eng verwandt war. Anhand dieser Informationen erarbeitete ich den Charakter Johnny. Einen Menschen, der nie eine echte Chance im Leben hatte.

„Jede Vergewaltigung ist eine ‘echte‘ Vergewaltigung“

nein

Du hast einmal erzählt, dass viele dich bemitleiden, weil du, wie sie sagen, eine „echte“ Vergewaltigung durchgemacht hättest. Im Umkehrschluss sagen sie damit, dass Sex mit Bekannten, zu dem die Frau gezwungen wurde, weniger schlimm sei als das, was dir zustieß. Was hältst du von ihrer Aussage?

Ich finde diese Unterscheidung absolut absurd. Jede Vergewaltigung ist eine echte Vergewaltigung. Meine war nur eine, wie man sie sich klassischerweise vorstellt: Ich wurde von einem Fremden auf öffentlichem Gebiet angefallen. Das macht das Verbrechen aber nicht schlimmer. Vielleicht macht es es im Gegenteil sogar leichter zu ertragen.

Inwiefern?

Nun ja, das ist doch eigentlich das Schlimmste: wenn man von jemandem vergewaltigt wird, den man kennt, dem man vertraut oder den man vielleicht sogar geliebt hat. Trotz dieses Verhältnisses den Mut zu fassen und über die Tat zu sprechen, erfordert unfassbar viel Kraft. Man verliert so schließlich mindestens einen Vertrauten. Oft läuft man dann auch viel eher Gefahr, dass einem nicht geglaubt wird. Vielen Frauen wird im Gegenteil vorgeworfen, sich zu sexy angezogen, ihn verführt zu haben – oder sich einfach an ihm rächen zu wollen.

Trotz der Tatsache, dass vielen Opfern nicht geglaubt wird, wird im Buch immer wieder betont, wie wichtig es ist, sich nach einer Vergewaltigung  jemandem anzuvertrauen und das Verbrechen zu melden. Warum?

Weil ich wirklich daran glaube, dass das hilft. Und trotzdem trauen viele Frauen sich nie, mit jemandem darüber zu sprechen, was ihnen geschehen ist. Ich habe eine Freundin, deren Großmutter die Wahrheit mit sich aufs Sterbebett nahm. Ich glaube, es hätte sie erleichtert, ihren Schmerz früher mit jemandem zu teilen. Ich jedenfalls hätte es nicht ertragen können, die Vergewaltigung für mich behalten zu müssen.

Vivian ist im Buch aber oft strapaziert davon, den Ablauf ständig neu erzählen zu müssen. Wie ging es dir damit, das immer wieder auf dich zu nehmen, um dein Buch zu promoten?

Als ich das Buch schrieb, waren schon Jahre vergangen. Mit der Zeit war es leichter geworden. Trotzdem brach ich bei manchen Stellen im Buch noch in Tränen aus. Zum Beispiel wenn Vivian wieder zurück in ihrem Apartment in London ist – es ist das gleiche, in dem ich gerade sitze – und mit ihren Ängsten kämpft.

„Das Verhalten einer Frau interessiert den Täter nicht“

Du betonst im Buch immer wieder, dass Vivian eine Frau ist, die Männern eher abgeneigt ist. Sie mag keine One Night Stands, ist auch nicht auf Partnersuche. Warum war es dir so wichtig, Vivian als „sittsame“ Frau zu zeichnen?

Das ist eher unterbewusst passiert. Vermutlich ist Vivian so, weil ich so bin. Generell finde ich es aber auch wichtig, zu zeigen, dass Frauen eben nicht nur dann vergewaltigt werden, wenn sie leicht bekleidet oder so unterwegs sind. Dass das gar nichts mit dem Verhalten der Frau zu tun hat. Es kann auch Frauen wie Vivian und mir passieren: in Wanderklamotten, am hellichten Tag. Frauen werden ständig sexualisiert – ob sie das wollen oder nicht. Das Verhalten einer Frau interessiert den Täter nicht.

Im echten Leben gab es den Prozess, den du im Buch beschreibst, nicht. Dein Vergewaltiger gestand und wurde zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Warum der Umweg im Buch?

Zum einen ergab es dramaturgisch Sinn. Zum anderen wusste ich, dass viele andere Frauen durch solche Prozesse hindurch müssen. Ich habe deshalb einige solcher Prozesse besucht und gemerkt, dass sie für die Opfer furchtbare Prozeduren bedeuten, die absolut traumatisierend wirken. Schließlich wird ihnen darin oft vorgeworfen, sich das alles ausgedacht zu haben. Ihnen wird viel zu oft die Schuld an etwas gegeben, für das sie nichts können und an dessen Folgen sie noch lange leiden werden. Das wollte ich den Lesern bewusst machen.

Dein Buch erfüllt mit all dem eine ähnliche Aufgabe wie die #metoo-Bewegung: Es schafft Aufmerksamkeit für sexuelle Gewalt gegen Frauen. Du bist außerdem schon länger als Aktivistin aktiv. Glaubst du, du kannst so etwas ändern?

Ich glaube auf jeden Fall, dass Aktivismus etwas verändern kann. Die #Metoo-Bewegung hat ja auch etwas verändert: Viele Frauen wissen jetzt, dass sie nicht alleine sind. Sie trauen sich, zu sprechen. Und viele andere haben erst jetzt begriffen, wie allgegenwärtig das Problem sexueller Gewalt gegen Frauen überhaupt ist. Natürlich wird es immer Männer und sogar Frauen geben, die sagen, das sei doch alles übertrieben. Aber gerade daran wird klar, wie viel sich noch tun muss.

Man sieht es ja an Vivian. Sie hatte eine tolle Zukunft vor sich, war erfolgreich, liebte es mehr, zu reisen als irgendwelche Romanzen mit Männern zu beginnen. Sie war ja gar nicht so sehr interessiert an Männern. Und doch war es ein Mann, ein Junge, der ihr all das nahm. Das sollte heute keine Frau mehr ertragen müssen.

Wenn dich dieses Buch betrifft oder dir Ähnliches zugestoßen ist, wie seiner Autorin, kannst du dich an verschiedene Anlaufstellen wenden. Unter anderem an bff: Frauen gegen Gewalt oder das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen: 08000 116 016.

Frauen werden ständig unfreiwillig sexualisiert:

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