- • Startseite
- • Krieg in Syrien
-
•
Junge syrische Architektin analysiert den Zusammenhang von Städtebau und Bürgerkrieg
Ein Krieg hat nie nur einen Grund, sondern immer mehrere. Man kann versuchen, einzelne von ihnen auszumachen und zu verstehen – weil darin vielleicht der Ansatz für eine Lösung steckt, für einen Neuanfang. Marwa al-Sabouni hat das gemacht und sich dabei etwas angeschaut, an das die meisten von uns nicht denken würden, wenn sie nach einer Erklärung für einen Krieg suchen: die Architektur. Die Viertel und Städte ihrer Heimat Syrien.
Marwa ist promovierte Architektin und vor wenigen Tagen 35 Jahre alt geworden. Sie lebt in Homs, eine der am härtesten umkämpften Städte im syrischen Bürgerkrieg. Homs wurde lange von Regierungstruppen belagert, große Teile der Bevölkerung waren bis Anfang des Jahres in der Stadt eingeschlossen. Auch Marwa, ihr Mann und ihre beiden Kinder.
Marwa erzählt über Skype davon. Kurz erscheint ihr Gesicht auf dem Laptop, eine lächelnde junge Frau mit einem roten Kopftuch – dann muss das Gespräch ohne Kamera weitergehen, die Internetverbindung ist zu schlecht. Im Hintergrund sind Straßengeräusche zu hören, wie durch ein offenes Fenster: Autos hupen, jemanden ruft etwas, Vögel zwitschern. Diese Art von Ruhe gibt es in vielen Teilen des Landes nicht und es gab sie auch in Homs lange nicht. „Wir haben zwei Jahre lang wie Gefangene in unserer eigenen Wohnung gelebt“, sagt Marwa. „Manchmal sind Raketen direkt in unserer Nachbarschaft eingeschlagen. Wir hatten auch oft mehrere Tage keinen Strom, eine Woche lang kein Wasser.“ Dann sagte sie: „Du weißt schon – Krieg eben!“ Und lacht wie als Entschuldigung. Als wolle sie sich nicht beklagen.
Marwas Arbeit hat sie international berühmt gemacht
Während der Belagerung hat Marwa ihre Dissertation ausgearbeitet. Auf eine gewisse Weise, sagt sie, habe ihr das geholfen. Weil sie sich auf etwas anderes konzentrieren konnte, als immer nur auf das Leid. Aus der Arbeit ist jetzt ein Buch entstanden: „The Battle for Home: The Vision of a Young Architect in Syria“. Darin stellt Marwa die These auf, dass die Fehler, die in Syrien beim Städtebau gemacht wurden, Mitschuld am Bürgerkrieg haben.
Neben ihrer tief gehenden, teils technischen, teils philosophischen Analyse enthält das Buch einige persönliche Episoden aus dem Krieg und mehr als 30 Skizzen: zerstörte Viertel in Homs, Schulen, die zu Notunterkünften umgewandelt wurden, christliche und islamische Architektur im Vergleich, Entwürfe für neue Wohnhäuser. Marwas Arbeit hat ihr mittlerweile einiges an internationaler Anerkennung eingebracht. Die New York Times und der Guardian haben über sie berichtet und ihr TED-Talk aus dem vergangenen Mai, in dem sie mit tiefen Augenringen und beinahe gehetzt ihre These vorträgt, wurde mehr als 620.000 Mal angeschaut.
Aber wie genau hängen die Architektur und der Krieg denn nun zusammen? „Du kannst dir unsere gebaute Umgebung als Bühne für das Geschehen vorstellen“, sagt Marwa. „Die Architektur kann eine Gemeinschaft zusammenbringen – aber sie kann sie auch auseinanderreißen.“ Syrien sei immer ein Land gewesen, in dem unterschiedliche Bevölkerungsgruppen harmonisch zusammengelebt haben: ob arm oder reich, orthodoxer Christ, Alawit oder Sunnit, jeder gehörte dazu. An den Resten traditioneller Architektur könne man das noch erkennen: In den alten, natürlich gewachsenen Zentren von Homs und Damaskus zum Beispiel, in denen jeder seinen Platz fand.
Aber im Laufe des letzten Jahrhunderts habe sich das geändert. Zunächst nach dem ersten Weltkrieg, als die Franzosen das Mandat über Syrien innehatten und anfingen, das Land nach ihren Vorstellungen zu modernisieren. Später dann sei auch die Städteplanung der eigenen Regierung jahrelang verfehlt gewesen: durchsetzt von Korruption und ebenfalls mit einem „Modernisierungsgedanken“, wurden die bestehende Bausubstanz und alles Traditionelle einfach ignoriert. Immer öfter entstanden zudem informelle Siedlungen, also solche, die die Bewohner selbst erschaffen haben, weil sie einen Platz zum Leben brauchten – vor Beginn des Bürgerkriegs machten diese Viertel schließlich 40 Prozent des gesamten städtischen Raums aus.
In einer funktionierenden Stadt müssen die Menschen einander begegnen und miteinander verhandeln
Die verschiedenen Bevölkerungsgruppen Syriens drifteten dadurch immer weiter auseinander. „Es gab viel zu viele Viertel, die um die Stadtzentren herum verteilt und voneinander abgeschnitten waren. Die extra angelegt waren für Alawiten, für Christen, für Geringverdiener, für die Oberklasse. Diese Anordnung war zum Scheitern verurteilt“, sagt Marwa. Denn in einer funktionierenden Stadt gibt es eine Art Gemeinschaftsvertrag zwischen den Menschen, der besagt: Ihr müsst einander begegnen und miteinander verhandeln. In segregierten Städten gibt es diesen Vertrag nicht.
Ein weiteres Problem sei, so Marwa, die „verlorene Identität“: Die moderne Architektur syrischer Städte sei gesichtslos. Zementblöcke ohne Charakter, gebaut ohne Kenntnis von der traditionellen und islamischen Architektur des Landes. Oder provisorisch und aus der Not heraus geboren, wie in den informellen Siedlungen. „Diese Orte bieten den Menschen keine Chance, sich damit zu identifizieren und das Gefühl zu haben, dorthin zu gehören“, sagt Marwa.
Die Konsequenzen daraus, glaubt Marwa, haben den Konflikt, der 2011 mit dem Arabischen Frühling begonnen hat, zwar nicht allein erschaffen – aber sie haben ihn befeuert: Durch die Segregation der Bevölkerung gab es kein Gemeinschaftsgefühl mehr, auf dem man aufbauen und eine Lösung für die bestehenden und sich verstärkenden Spannungen im Land finden konnte. Sondern es gab viele vereinzelte Gruppen, von der jede ihre eigene Position eingenommen und gegen die anderen Gruppen verteidigt hat. Außerdem, so Marwa, sei es zu einfach gewesen, die Architektur Syriens und damit große Teile des Landes zu zerstören. Weil ganze Viertel minderwertig gebaut waren, aber auch, weil es für viele Menschen viel zu leicht war, ihre Heimat aufzugeben.
Das arabische Wort für "Zuhause" leitet sich von einem Wort für "Seelenfrieden" ab
Überhaupt beschäftigt Marwa sich viel mit den Begriffen „Heimat“ und „Zuhause“ – unter anderem das macht den Ton ihres Buches so philosophisch. „Das arabische Wort für ‚Zuhause‘, also für das Haus, in dem man lebt, leitet sich von einem Wort ab, das so etwas wie ‚Seelenfrieden‘ meint“, sagt sie. „Ich finde, das ist eine sehr gute Bedeutung.“ Denn ein Zuhause solle genau das leisten: dass man dort zur Ruhe kommt. Es soll ein Ort sein, „an den man gehört“.
Darum wünscht Marwa sich für einen möglichen Wiederaufbau, dass die zerstörten Viertel nicht von großen Baufirmen vorschnell wieder aufgebaut werden. „Sondern dass wir Syrer dann so weise sind, darüber nachzudenken, was wichtig für uns ist. Dass wir alte Werte zurückerobern, die für Zusammenhalt gesorgt haben und für Harmonie. Damit so etwas wie dieser Krieg nie wieder passieren kann.“ Für den möglichen Wiederaufbau von Baba Amr, einem Viertel von Homs, hat sie sogar Entwürfe gemacht, die im Buch zu sehen sind: Häuser für gemeinsames Arbeiten unten und Wohnen oben, und die ineinandergreifen und so zusammen einen Bogengang bilden wie in einem traditionellen arabischen Souk.
Wirklich hoffnungsvoll blickt Marwa allerdings nicht in die Zukunft. Eigentlich sagt sie, denke sie gar nicht viel darüber nach. Ihr Buch sei eher ein Blick in die Vergangenheit, es suche nach einer Antwort auf die Frage: Warum ist es so weit gekommen?
Und wenn sie doch an die Zukunft denkt, dann macht ihr vor allem das Schicksal der nächsten Generation Sorgen. „Meine Generation hatte auch schon Schwierigkeiten, sich zugehörig zu fühlen“, sagt sie. Das habe auch mit einem Minderwertigkeitskomplex gegenüber der westlichen Welt zu tun: Viele ihrer Altersgenossen schauten herab auf die eigene Heimat. „Und es bricht mein Herz, die heutigen Jugendlichen und Kinder zu sehen“, sagt Marwa, „Sie haben gar keinen Ort mehr, an den sie gehören. An denen sie zurückkehren können. Vor allem viele von den informellen Siedlungen sind ja komplett zerstört worden. Was ist das Schicksal dieser Orte? Wem werden sie gehören? Wer wird die Menschen dorthin zurückbringen?“
Marwa ist skeptisch: Sie glaubt nicht, dass die Integration der Syrer in Deutschland gelingen wird
Aber müssen die Menschen denn dorthin zurückkehren? Millionen Syrer sind ins Ausland geflohen, viele davon nach Deutschland – können sie nicht dort oder anderswo neu anfangen, eine neue Heimat finden? Marwa sieht das sehr skeptisch: „Das ist vielleicht nicht das, was ihr hören wollt – aber ich denke, in vielen Fällen wird die Integration nicht gelingen. Es gibt zu viele Unterschiede. Und das wird auf Kosten der Flüchtlinge gehen, die extrem viele Zugeständnisse machen müssen, um sich irgendwie anzupassen.“ Auch hier sieht sie die Architektur wieder in der Pflicht. Denn auch Deutschland bündelt die Flüchtlinge oft, in Massenunterkünften, an Orten weit weg von einem Stadtzentrum oder in seelenlosen Hochhaus-Vierteln. Wieder kein Gesellschaftsvertrag, keine Begegnungen, keine Verhandlungen. So kann Zusammenleben nicht gelingen.
Dann geht Marwas Laptop aus, der Akku ist leer. Kurze Zeit später ruft sie zurück, die Verbindung ist schlechter. Sie klingt jetzt weit weg und verschwommen. Aber sie will noch etwas loswerden: "Am besten wäre es", sagt sie, "wenn all diese Menschen ein friedliches Land hätten, in das sie zurückkehren können. Mit einer Architektur, die eine bessere Zukunft verspricht."