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Wie kann ich mein Leben hier genießen, wenn mein Leben noch in Syrien ist?

Foto: dpa

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A. Hakmi, 24, kommt aus Syrien. Mit 21 wurde er verhaftet, verbrachte einige Monate in einem Gefängnis des Assad-Regimes. Während des Bürgerkriegs hat er für viele internationale Medien als Informant gearbeitet, hat aus der umkämpften Stadt Homs berichtet. 2014 kam er mit einem Stipendium nach Deutschland. Er lebt mittlerweile in Berlin. 

  • Es ist der fünfte Jahrestag der Revolution, fünf Jahre sind vergangen, Wow! Wirklich? Fünf Jahre?
  • Alles hat angefangen, als wir, das Volk, mehr Rechte gefordert haben, Freiheit. Wir sagten: Genug, genug mit der Tyrranei, der Unterdrückung, der Repression. 
  • Alle wollten etwas tun, wollten mitmachen, mithelfen. Aktivisten, Medienmenschen, Sozialarbeiter, Ärzte, Organisatoren der Proteste ... Es war faszinierend zu sehen, wie ganz unterschiedliche Menschen, Menschen aus verschiedenen sozialen und religiösen Gruppen, zusammengearbeitet haben für ihr gemeinsames großes Ziel.
  • Zu Beginn der Revolution hatte ich Tagträume: "In ein paar Monaten werden wir dieses barbarische Regime los, als erstes werden wir die politischen Gefangenen freilassen. Das wird der beste Moment meines Lebens, ich wette, ich muss weinen."
  • Diesen Moment hat es nie gegeben. 
  • Wie viele wurden getötet? Wie viele inhaftiert, gefoltert? Wie viele haben einen geliebten Menschen verloren?
  • Seit dem 15. März 2011 haben Millionen für die Revolution gekämpft.
  • Sie demonstrierten, wurden angeschossen, haben trotzdem nie aufgehört.
  • Auf ihrem Weg zur Freiheit haben sie nichts geschont. Was gebraucht wurde, haben sie gegeben: Blut (ihr eigenes), Familie (ihre eigene), Ersparnisse (ihre eigenen). 
  • Viele haben ihr Leben unserer Freiheit geopfert, ich beneide sie, sie sind jetzt im Paradies. Kein Leid mehr. 
  • Wie wäre es jetzt, da unten, zu Hause in Syrien, wäre das Regime im ersten Jahr der Revolution gestürzt worden? Wie viele Leben hätten gerettet werden können? Wie viel Leid verhindert?
  • Ich vermisse fast alles an zu Hause.
  • Der IS, woher kam er und wie wurde er so mächtig? Was ist der Grund dafür, dass er immer noch existiert?
  • Das syrische Regime ist meiner Meinung nach der Grund, warum der IS existiert. Es ist der Terror des syrischen Regimes, der den IS hervorgebracht hat und es ist hundertfach schlimmer (hundertfach, in Zahlen und Statistiken).
  • Dieses Regime kommt mit seinen Verbrechen davon.
  • Dieses Regime darf dabei helfen, den IS zu bekämpfen - den ebendieses Regime und seine Alliierten selbst hervorgebracht haben.
  • Die heutige Situation - das Regime, die Rebellen, IS, libanesische Milizen, irakische Milizen, Iran, Russland, die internationale Koalition, die kurdischen Gruppen ... Wer schuf dieses Chaos?
  • Das syrische Volk hat keine Kontrolle darüber, was in Syrien passiert. 
  • Menschen werden getötet, gefoltert, eingesperrt. 

Ich vermisse fast alles an zu Hause.

  • Jetzt, nach fünf Jahren, wie viele Jahre wird es noch dauern, bis die armen Menschen ein bisschen Frieden bekommen? Ist es nicht genug?
  • Ich vermisse fast alles an zu Hause. Ich vermisse den Esstisch, unsere Gespräche bei jedem Essen, ich vermisse meinen Bruder, der meine Schwester ärgert, meine Schwester, die meinen Bruder anschreit, die Scherze meines Vaters und alles an meiner Mutter. Ich vermisse das Esszimmer, wo ich mit meinem Bruder und meinem Vater jedes Wochenende Actionfilme geschaut, wo ich mit meiner Mutter und meiner Schwester getratscht habe. Ich vermisse mein Zimmer, ich wünschte, ich könnte nur für fünf Minuten die Zeit zurückdrehen um noch einmal auf meinem Bett dort zu liegen.
  • Als ich nach Deutschland kam, dachte ich, es ist vorbei, kein Leid mehr.
  • Aber wie kann ich mein Leben hier genießen, wenn mein Leben noch dort ist, in Syrien?
  • Jeden Moment könnte ein Verwandter ohne jeden Grund von der Polizei abgeholt werden. 
  • Wenn - Gott behüte - das passiert, könnte dieser Verwandte sterben. Ich halte das nicht mehr aus, ich habe schon Dutzende Angehörige und Freunde im Krieg verloren.
  • Ich glaube, ich ertrage das nicht mehr. 
  • Ich mag Deutschland, das Land, und ich respektiere die deutsche Kultur und ihre Werte, aber nach einer Weile habe ich gemerkt, dass es nicht so einfach ist, sich anzupassen.
  • Wir haben unsere Kultur und unsere Werte mitgebracht, und weil wir jetzt hier in Deutschland sind, sollten wir uns integrieren. Aber manchmal prallen diese beiden Kulturen aufeinander, was soll ich da machen?
  • Ich kann nicht einfach die eine Kultur der anderen vorziehen, und sie zu vermischen ist wirklich kompliziert. 
  • Wenn Kulturen und Werte so aufeinanderprallen, fühle ich mich allein und verloren. 
  • Ich müsste meine Familie jetzt eigentlich unterstützen, aber ich kann das noch nicht. Ich mache einen Deutschkurs, habe noch keine Arbeit.
  • Das tut weh.
  • Manchmal, wenn ich hier in Berlin etwas Leckeres esse, muss ich an meine Familie denken. Ich denke: Jetzt genieße ich dieses Essen, während sie dort unten sitzen, ohne Heizung, ohne Strom.
  • Es macht mich verrückt.
  • Wenn ich mit meiner Familie skype, das ist seltsam. Sie haben sich verändert, mein Vater ist alt geworden, meine Schwester und mein Bruder sind erwachsen geworden, seit ich gegangen bin.

Werde ich hier sterben oder zu Hause?

  • Werde ich selbst einmal in Deutschland Kinder haben? Werde ich sogar deutscher Staatsbürger?
  • Und werden wir dann ein Teil dieser Gesellschaft sein? Oder werden wir Fremde sein, die ihre eigenen Viertel haben, ihre eigenen abgeschlossenen Gruppen?
  • Ich will, dass wir zu dieser Gesellschaft etwas beitragen, sie bereichern. Ich glaube, dass die Syrer irgendwo zwischendrin leben werden, nicht isoliert, aber auch nicht total den deutschen Lebensstil. Ich glaube, das wird so eine Fifty-Fifty-Sache.
  • Werde ich hier sterben oder zu Hause?
  • Auch wenn ich Zweifel habe; das ist die eine Sache, bei der ich mir sicher bin: Wenn ich sterbe, hoffe ich, dass das zu Hause passiert, dort will ich begraben sein.
  • Ich denke oft darüber nach, wie die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg ihr Land wieder aufgebaut haben, sie haben von Null angefangen, in dieser schrecklichen Situation - Millionen waren im Krieg getötet worden, alles war zerbombt und zerstört, Armut, Hunger ... Und heute ist das Land das Herz der europäischen Wirtschaft und eine führende Nation in so vielen Bereichen.
  • Das heißt: Es geht, ein Land von Null wieder aufzubauen, das ist eine Inspiration für Syrien. 
  • Aber um Syrien wiederaufbauen zu können, muss erst etwas passieren: Der Krieg muss aufhören. 
  • Meine größte Sorge ist die, wann ich meine Familie wiedersehen werde, und, ob ich je nach Syrien zurückkehre?
  • Ich liebe meine Heimat so sehr, aber ich kann nicht zurück.
  • Heimat ist der Ort, an dem man zur Ruhe kommt, nur daran zu denken, es ist nicht nur ein physisches Ding, ein Ort, es ist auch das Gefühl, dass die Nachbarn dich kennen, seit du klein warst. Heimat ist der Ort, wo die Menschen dich ohne Worte verstehen. Nicht dorthin zurück zu könen, fühlt sich taub an, tot.
  • Wenn meine deutschen Freunde in Urlaub fahren und nach Deutschland zurückkommen, beneide ich sie; sie gehen weg, wann immer sie mögen, aber sie können immer nach Hause zurückkehren. 
  • Werde ich je zurückkehren? Wann?
  • Wie viele Jahrestage muss es geben,  bis der Krieg in Syrien vorüber ist?

Weil die Familie unseres Autors in Syrien von Repression bedroht ist,  findest du in der Autorenzeile nur den abgekürzten Namen. 

Hier findet ihr den Text auf Englisch/ Here you find the article in english:

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