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Offener Brief von einem Missbrauchsopfer
Trigger-Warnung: In diesem Text wird sexueller Missbrauch beschrieben.
Ich weiß nicht, wie ich dich ansprechen soll. Deinen Namen will ich nicht aussprechen, einen Titel möchte ich dir auch nicht geben. Ist vielleicht auch nicht wichtig. Aber du bist ein Teil meines Lebens geworden. Ungefragt. Du hast mein Leben und mich verändert. Du bist der Typ, der mich missbraucht hat.
Keine Ahnung, ob du dich an mich oder die Nacht erinnerst. Es war Mitte Oktober. Ich war gerade für das Studium neu in die Stadt gezogen und war auf der Geburtstagsparty eines Schulfreundes.
Ich hab mich draußen vor der Tür gut mit ein paar Leuten unterhalten, irgendwann stand ich nur noch mit dir dort. Wir waren uns vorher noch nie begegnet, aber du warst sympathisch, hast mir Komplimente gemacht und zugehört. Ich war angetrunken. Im Nachhinein kann ich nicht sagen, ob du es auch warst und wenn ja, wie sehr. Wir gingen ein wenig spazieren und hatten ein gutes Gespräch. Irgendwann hast du mich geküsst. Ich hab mich nicht gewehrt – du schienst nett zu sein, irgendwie fand ich es auch schön, dass mir ein Masterstudent so viel Aufmerksamkeit schenkte und dachte mir „tja, das gehört wohl zum Studentenleben dazu“. Der Alkohol tat seinen Rest. Irgendwann auf unserem Spaziergang kamen wir an meiner Wohnung vorbei. Warum ich dir gesagt habe, dass ich dort wohne, weiß ich nicht mehr. Hätte ich das nicht gemacht, wäre es vermutlich nie so weit gekommen. Meine Mitbewohner schliefen schon. Wir gingen in mein Zimmer.
Am nächsten Morgen hast du nur gelächelt und gemeint, wie schön es doch gewesen sei
Was dann passierte, war in gewissem Maß vorhersehbar. Am Anfang war noch alles okay, aber irgendwann hast du mich nicht mehr wahrgenommen und einfach immer weiter gemacht. Obwohl ich Nein gesagt habe. Meine Bitten aufzuhören, hast du nicht beachtet. Dass ich mich nach und nach versucht habe unter dir wegzuziehen, war für dich kein Grund aufzuhören.
Ich kann und will nicht wiedergeben, was genau passiert ist. Ich bin es immer wieder in meinem Kopf durchgegangen – freiwillig und unfreiwillig. Fakt ist, dass ich verbal und körperlich mehrmals nein gesagt habe. Du hast mein Nein ignoriert und mich festgehalten, bis du fertig warst.
Danach bist du einfach eingeschlafen. In dem Moment war mir gar nicht genau bewusst, was gerade passiert war. Ich habe mich nur unglaublich schlecht und unwohl neben dir gefühlt. Die ganze Nacht habe ich kein Auge zugetan, während du friedlich neben mir lagst und deinen Rausch ausgeschlafen hast. Am nächsten Morgen hast du nur gelächelt und gemeint, wie schön es doch gewesen sei, wir könnten es ja wiederholen. Ich war völlig fertig von der Nacht und habe dich mit irgendeiner halbwegs plausiblen Ausrede rausgeschmissen. Mir war nicht wirklich bewusst, was in der Nacht passiert ist. Irgendwie habe ich mich auch etwas geschämt. Ich wollte einfach nur, dass du gehst.
Ich war den ganzen Tag schlecht drauf, schob es aber einfach auf den Schlafmangel und die Nachwirkungen des Alkohols. Ich fühlte mich schuldig und habe mich über mich selbst geärgert, warum ich getrunken habe, warum ich dich mitgenommen habe, warum ich nicht lauter und öfter nein gesagt habe. Dieser Zustand hielt einige Zeit an. Ich habe mich sehr unwohl in der Wohnung gefühlt, schlief schlecht und wachte nachts auf, wenn ich Geräusche im Flur gehört habe. Zwei Wochen nachdem du bei mir gewesen warst, bin ich aus der Wohnung ausgezogen. Ich hab mich einfach nicht mehr zuhause gefühlt. Trotz all der schlechten Momente und meiner Unruhe nach der Nacht habe ich diesen krassen Schritt des Auszugs nicht mit dir Verbindung gebracht. Es war mehr so ein allgemeines Gefühl.
In meiner linken Jackentasche ist ein Anti-Stress-Ball, in meiner rechten ein Pfefferspray. Ohne geh ich nicht mehr aus dem Haus
Du hast dir von irgendjemandem meine Handynummer geben lassen und mir geschrieben, mehrmals, ob wir es nicht wiederholen wollen. Erst hab ich die Nachrichten ignoriert. Nach ein paar Wochen hab ich meine Handynummer geändert. Oft hab ich mich auf dem Campus ertappt, wie ich zusammengezuckt bin, weil irgendein Typ aussah wie du. Aber zum Glück hab ich mich jedes Mal getäuscht.
Im Winter habe ich angefangen sehr viel Gras zu rauchen. Am Anfang vielleicht einmal pro Woche mit meinen neuen Mitbewohnern. Ein paar Monate später jeden Tag, manchmal schon mittags, mit anderen und auch alleine.
Zur gleichen Zeit haben ein Freund und ich uns angenähert. Wir haben uns sehr gut verstanden und er zog für ein paar Wochen quasi bei mir ein. Ich genoss seine positive Art sehr und auch jede Nacht neben ihm zu schlafen. Er gab mir in dieser Zeit genau das, was ich gebraucht habe: Gegenseitiges Vertrauen, Nähe, ohne zu viel zu verlangen und viel Ablenkung. Aber umso ernster unsere Beziehung wurde, desto näher kamen wir uns auch körperlich. Bis ich dicht gemacht habe. Ich wollte ihn nicht an mich ranlassen, es war einfach so ein Gefühl. Obwohl ich ihn wirklich toll fand, dachte ich, dass mein Zögern wohl ein Zeichen dafür ist, dass er nicht der Richtige ist. Das Gefühl hab ich ihm wohl auch gegeben. Kurz darauf war es vorbei. Daraufhin begann ich noch mehr zu kiffen.
Im Frühling fing ich an zu boxen und auch mehr Sport zu treiben. Das hat mir enorm dabei geholfen Aggressionen rauszulassen und insgesamt ausgeglichener und selbstbewusster durch den Alltag zu gehen. Auch bin ich noch einmal umgezogen, um aus der WG herauszukommen, in der jeden Tag gekifft wurde. Ich landete in einer wunderbaren herzlichen und familiären neuen Wohngemeinschaft. Langsam ging es wieder bergauf. Ich traf jemanden, den ich wirklich großartig fand. Wir verbrachten den Sommer gemeinsam und es war uns beiden recht ernst. Wir haben uns viel Zeit gelassen. Nach und nach wuchs das Vertrauen. So sehr, dass wir uns auch körperlich nahe kamen. Es war schön und hat uns zusammengeschweißt. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich dich völlig vergessen.
Im September war ich für zwei Wochen mit Freunden im Urlaub. Wir hatten eine tolle Zeit mit guten und intensiven Gesprächen. In einem ging es auch um psychischen und physischen Missbrauch und das Täter-Opfer-Verhältnis. Ich kann nicht beschreiben warum, aber in diesem Moment wurde etwas in mir ausgelöst, etwas in mir begann zu arbeiten. Kurze Zeit später nahm ich an einem 10-tägigen Meditationskurs teil, bei dem nicht gesprochen wurde, es kein Input in Form von Büchern, Musik oder ähnlichem gab – man beschäftigt sich also den ganzen Tag nur mit sich. Da kamen Bilder hoch. Szenen, erst undeutlich und kurz, dann immer deutlicher und ausführlicher. Alles fügte sich zusammen und ich hab vom einen auf den anderen Moment realisiert, was du mir angetan hast. Du hast mich missbraucht. Seitdem ist über ein Jahr vergangen.
Eigentlich ist es seit dem Moment schlimm, als mir klar wurde, was du getan hast . Vorher habe ich deine Tat mehr oder weniger erfolgreich verdrängt und mein Unterbewusstsein damit fertig werden lassen. Aber seit ein paar Monaten kann ich das nicht mehr so leicht ignorieren. Bei jeder Filmszene, in der sexualisierte Gewalt gezeigt wird, bei jedem Witz oder sexistischem Kommentar, jedes Mal, wenn jemand ungefragt angefasst wird – jedes Mal zieht sich mein Magen zusammen und ich brauche einige tiefe Atemzüge, bis ich mit der Situation klar komme. Noch schlimmer ist es mit richtigem Körperkontakt. Eine ungefragte Hand auf meinem Bein oder Arm, ein unabsichtliches Schubsen in der Bahn, eine minimale Berührung im Gedränge oder manchmal sogar eine Umarmung, nach der mir gerade nicht ist. Jedes Mal wird bei mir innerlich ein Chaos ausgelöst, das mir an schlechten Tagen völlig den Boden unter den Füßen wegziehen kann.
In meiner linken Jackentasche ist ein Anti-Stress-Ball, in meiner rechten ein Pfefferspray. Ohne geh ich nicht mehr aus dem Haus. Fühlt sich einfach besser an.
Ich weiß nicht, wie ich dich finde. Ich wünschte, es wäre mir egal. Ist es aber nicht. Ich frage mich oft, wie die Nacht aus deiner Sicht gelaufen ist
Facebook hat dich mir als „Person, die ich vielleicht kenne“ vorgeschlagen. Wir haben gemeinsame „Freunde“. Von deinem Profilbild aus starrst du mich mit einem vorwurfsvollen Blick an, als würdest du fragen wollen, was eigentlich mein Problem sei.
Ich kenne zwei Menschen, die eine Zeit lang mit dir zusammengewohnt haben, als du noch in der Stadt warst. Die eine hat mal von deinen unzähligen nächtlichen Frauenbesuchen erzählt. Die andere findet dich süß. Süß!
Eine von den beiden hat mir erzählt, dass du dein Studium beendet hast und nicht mehr in der Stadt wohnst. Darüber bin ich unglaublich froh. Jederzeit damit rechnen zu müssen dir über den Weg zu laufen, würde mir noch ein Stück mehr Lebensqualität nehmen.
Ich weiß nicht, wie ich dich finde. Ich wünschte, es wäre mir egal. Ist es aber nicht. Ich frage mich oft, wie die Nacht aus deiner Sicht gelaufen ist. Ob das für dich unter „One Night Stand“ läuft. Ob du irgendeinen Frust rauslassen musstest. Ob du mein Nein nicht gehört hast. Gleichzeitig will ich es gar nicht wissen.
Weißt du, was einer der Gründe ist, warum ich es bisher kaum jemandem erzählt habe?
Vielleicht werden sie sagen, es sei meine eigene Schuld – ich hätte ja nichts trinken müssen, ich hätte weder mit dir spazieren gehen, noch dir sagen sollen, wo ich wohne, ich hätte ja deutlicher nein sagen können. Hab ich aber nicht.
Wenn ich es getan hätte, was hätte es geändert? Hättest du es nicht gemacht? Oder wärst du dann mit einer anderen nach hause gegangen und hättest sie an meiner Stelle missbraucht?
Seit mir bewusst geworden ist, was vor mittlerweile 15 Monaten passiert ist, habe ich es erstmal einige Zeit mit mir rumgetragen, ohne mit jemandem darüber zu sprechen. Es irgendwann doch zu tun, hat mich große Überwindung gekostet. Zum einen hatte ich Angst es auszusprechen, weil es dann ein Stückchen wahrer wurde. Zum anderen wollte und will ich deshalb nicht anders von meinen Freunden behandelt werden. Sie sollen mich nicht mit Samthandschuhen anfassen und sich erst recht keine Sorgen machen. Mittlerweile habe ich mit zwei guten Freundinnen darüber gesprochen. Es war halb so wild. Eigentlich hat es sogar gut getan, weil die Last jetzt nicht mehr nur auf meinen Schultern liegt. Wenn es mir wegen deiner Tat manchmal mal schlecht geht, muss ich das nicht mehr mit mir alleine ausmachen, sondern kann sie anrufen und darüber sprechen oder mich einfach ablenken lassen.
Gleichzeitig habe ich auch gemerkt, dass es Menschen in meinem Umfeld gibt, bei denen ich nicht im Entferntesten daran denken könnte ihnen davon zu erzählen. Die ich eigentlich als meine Freunde sehe oder die zu meiner Familie zählen. Aber das Vertrauen für so eine große Sache ist einfach nicht da. Das hilft mir zu differenzieren, in welche Freundschaften ich investieren möchte und welche bisher eher oberflächlich waren.
Auch wenn ich mich oft frage, ob ich etwas hätte anders machen können, schaffe ich es langsam, mich nicht mehr als Opfer zu sehen. Vor allem habe ich gelernt, dass ich keine Schuld daran habe. Mit der Zeit bin ich deutlich sensibler geworden, was sexualisierte Gewalt angeht. Sie war auch vorher da, aber ich nehme sie jetzt deutlicher und öfter wahr. Auch habe ich mich mit vielen Missbrauchsfällen und den möglichen Folgen befasst, was mich oft zwar erst runterzieht, mir aber später sehr viel, auch über mich selbst, erklärt.
Das ist auch – wenn ich es so sehen will und kann – das einzig positive an dieser Geschichte. Durch dich habe ich mehr über mich selbst gelernt. Darüber was ich will und insbesondere, was ich nicht will. Mir ist bewusst(er) geworden, dass ich nichts mit mir machen lassen muss, wenn es sich nicht gut anfühlt. Ich habe gelernt, dass der Mensch, der ein Nein nicht achtet, das Problem ist. Nicht der Mensch, der Nein gesagt hat.
Wenn du selbst oder Menschen in deinem Umfeld von sexuellem Missbrauch betroffen sind, findet ihr hier Hilfe, auch in Form einer Datenbank mit Anlaufstellen: www.hilfeportal-missbrauch.de.
Dieser Text erschien zuerst auf kleinerdrei.org . Die Autorin verarbeitet darin sehr persönliche Erfahrungen mit sexueller Gewalt und möchte deshalb nicht namentlich genannt werden. Was sie aber über sich erzählen mag: Dass sie Anfang 20 ist, im Kulturbereich studiert und neben dem Studium sehr viel mit Musik mach. Ihr Name ist der Redaktion bekannt.
kleinerdrei.org ist ein Gemeinschaftsblog, das 2013 von Anne Wizorek gegründet und Ende 2018 eingestellt wurde. Zehn feste Autor_innen und sieben Kolumnist_innen schrieben hier regelmäßig über alles, was ihnen am Herzen lag. Daher auch der Name kleinerdrei, der im Netzjargon für ein Herz steht: eben ein <3. Die Themen reichten dabei von Politik bis Popkultur und wurden stets aus einer feministischen Perspektive betrachtet. Im Jahr 2014 wurde kleinerdrei in der Kategorie “Kultur und Unterhaltung” für den Grimme Online Award nominiert. Die Autorin ist der Redaktion bekannt, möchte aber anonym bleiben.
Anmerkung vom 14. Februar 2017: Aufgrund der vermehrt sexistischen und spekulativen Kommentare unter diesem Text haben wir beschlossen, die Diskussionsfunktion zu schließen. Grenzüberschreitende und spekulative Kommentare und Reaktionen darauf haben wir großflächig gelöscht.