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Nachträgliche Aufarbeitung von sexueller Gewalt
Mit 15 war ich von vielen Dingen verunsichert in meinem Leben. Meinen Körper mochte ich nicht besonders. Er und ich waren uns nicht gerade einig darüber, was für uns Schönsein bedeutete. Ich wusste nicht, wen oder was ich begehre, aber ich wusste genau, dass ich das dringende Bedürfnis danach hatte, begehrt zu werden. Die Kombination aus meiner Verunsicherung, meinem Körpergefühl und der Tatsache, dass ich nicht einmal wusste, was genau ich wollte, war nicht förderlich für mein Begehren. Ich streckte meine Fühler in alle möglichen Richtungen aus und lernte über Freunde und Freundinnen schließlich U. kennen. Er war drei Jahre älter als ich und im Gegensatz zu mir wusste er genau was er wollte.
U. hat mich begehrt. Sehr sogar. So sehr, dass ich komplett davon überfordert war. Ich habe es genossen, Aufmerksamkeit zu erfahren, Anerkennung für meinen Körper und das Gefühl, dass es da jemanden gibt, der mich scheinbar gut findet. Gleichzeitig wusste ich nicht einmal, ob ich das überhaupt möchte. Wie weit möchte ich mit U. gehen? Wo sind meine Grenzen? Was fühlt sich noch gut an? Und an welchem Punkt kann mein 15-jähriges Ich nicht zwischen Neugierde und Grenzüberschreitung unterscheiden?
Nach ein paar Wochen wurde es körperlich zwischen U. und mir, ich war schließlich neugierig. Mit der Neugierde kamen aber auch Angst, Scham und Zweifel. Wollte ich das alles überhaupt? Allen anderen 15-Jährigen schien es so leicht zu fallen, also versuchte ich mich darauf einzulassen. Eines Abends lagen wir bei ihm im Bett, er fasste mich an und ich war wie gelähmt. In meinen Gedanken wusste ich genau, was ich wollte. Ich wollte, dass U. aufhört, aber es blieb bei einem stummen Aufschrei. Also lag ich regungslos da und wartete. Ich weiß noch genau, dass sich jede Sekunde so unbeschreiblich lang anfühlte. Schließlich kam es U. merkwürdig vor, dass ich seine Berührungen nicht erwiderte, also versuchte er, mich mit Worten zu betören. Er sei in mich verliebt, sagte U., und, dass ich ihm das nicht antun könnte, es nicht zu erwidern. Sein Gerede löste mich aus meiner Starre und schließlich brachte ich ihn dazu aufzuhören. Danach blieb mir nur die Scham und der Gedanke, dass ich mich selbst in so eine Situation begeben hatte.
Was, wenn jemand meinen Gefühlen die Daseinsberechtigung aberkennt?
Ich traf U. noch häufiger und jedes Mal war es ein auf und ab zwischen Neugierde und Grenzüberschreitung. In allen Situationen war U. derjenige, der die Handlungen initiierte. Der besagte Abend war prägend für mich, aber er wiederholte sich nicht noch einmal in dieser Form. Nichtsdestotrotz war U. gut darin, seine Gefühle noch einige Male nach diesem Abend als Vehikel für körperliche Zuneigung zu benutzen. Er konnte mich aufgrund meiner Schuldgefühle gut dazu überreden, dass er auf den Anblick meiner Füße masturbieren durfte, weil es dafür keinen Körperkontakt braucht. So habe ich es zumindest versucht mir damals einzureden. Heute weiß ich: Es braucht jedoch auch keinen Körperkontakt für Grenzüberschreitungen! Ich hab mich schlecht gefühlt, weil ich seine Gefühle nicht erwidern konnte und im gleichen Maße empfand ich Ekel vor mir selbst. All das hab ich gleichzeitig gespürt und elf Jahre später kämpfe ich immer noch damit.
Die ersten neun Jahre nach dem besagten Abend habe ich damit verbracht, nicht mehr darüber nachzudenken. Latent habe ich die Erinnerungen an die Zeit mit U. und die Grenzüberschreitung gespürt, oh ja, und wie ich es gespürt habe, aber ich habe nicht mehr bewusst darüber nachgedacht. Ich habe es auch neun Jahre lang niemandem erzählt, wie ich mich eigentlich in der Situation gefühlt habe. Dafür habe ich mich viel zu sehr geschämt. Ich hatte Angst, dass mir die Schuld an der Situation gegeben wird, dass ich ausgelacht oder als weinerlich oder noch viel schlimmer, als klein und hilflos gesehen werde. Was, wenn jemand meinen Gefühlen die Daseinsberechtigung aberkennt? Wenn das, was ich damals empfunden habe, als übertrieben und nichtig abgetan wird? Das würde sich noch viel schlimmer anfühlen.
Ich wollte nicht schwach wirken. Also schwieg ich.
Das latent schlechte Gefühl blieb jedoch. Jedes Mal, wenn ich mit jemandem körperlich intim wurde, fühlte ich Scham und Ekel. Ich war richtig angewidert von mir und wusste jahrelang nicht, wieso. Ich habe es einfach nicht verstanden. Es fühlte sich so an, als ob ich irgendwas falsch gemacht hätte, dabei wollte ich es einfach nur genießen. Vor ein bis zwei Jahren hat dann mein 15-jähriges Ich an die Tür meines Bewusstseins geklopft und mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Plötzlich ergab es einen Sinn, ich verstand, wieso ich mich die ganze Zeit über unterschwellig schlecht, schuldig und voller Scham gefühlt habe. Ich sprach zum ersten Mal bewusst mit einer meiner Partnerinnen über Konsens und weinte viel – es fühlte sich an wie eine Erleichterung.
Die wenigen Male die ich in den ersten neun Jahren über die besagte Situation mit U. nachgedacht habe, habe ich das, was damals zwischen uns passiert ist, selbst abgetan. Vermutlich, um meine größte Angst vorwegzunehmen: Dass andere mich nicht ernst nehmen würden, wenn ich es erzählen würde. Selbst jetzt, wenn ich darüber schreibe und es als sexualisierte Gewalt definiere, tue ich mich schwer damit, nicht dranzuhängen: „Aber es ist nicht so schlimm, es gibt Schlimmeres.” Ich tue mich schwer damit zu akzeptieren, dass ein einziger Abend so viele Auswirkungen auf mein Leben haben konnte. Ich will nicht die Kontrolle verlieren und schäme mich für meine Unsicherheit damals und dafür, dass ich nicht klar sagen konnte, was ich wollte. Und dann werde ich wütend. Wütend auf mich selbst und dann auf U. und dann wieder auf mich selbst. Wie hätte ich auch mit 15 wissen sollen, dass es so etwas wie Konsens gibt? Ich hatte es nie gelernt.
Ich begann zu verstehen, dass U. mich nicht ein einziges Mal gefragt hatte, ob ich überhaupt wollte, dass er mich anfasste
Das Nachdenken über Konsens und die Gespräche, die ich mit meinen Partnerinnen darüber geführt habe, haben mir klar vor Augen geführt, was mir in der Situation mit U. gefehlt hat. Ich begann zu verstehen, dass U. mich nicht ein einziges Mal gefragt hatte, ob ich überhaupt wollte, dass er mich anfasste. Diese Erkenntnis ließ mich das, was damals passiert war, in seiner ganzen Tragweite begreifen.
Mit mir wurde einfach etwas gemacht und ich war zu perplex und zu unfähig, um darauf zu reagieren. Das Reden über Konsens führte mir unwiderruflich vor Augen, dass ich sexualisierte Gewalt erfahren hatte und es rutschte aus meinem Unterbewusstsein in mein Bewusstsein. Jedes Mal, wenn ich seitdem beim Sex kommuniziere, dass ich nur bis zu einem bestimmten Punkt Lust oder nur auf bestimmte Dinge Lust habe, kostet es mich mal mehr, mal weniger Überwindung.
Die ersten Male, die ich meinen Partnerinnen gegenüber angesprochen habe, dass ich jetzt keine Lust mehr habe, angefasst zu werden und mir positiv zugesprochen und ich dabei unterstützt wurde, war ich so glücklich, dass ich fast weinen musste. Es kostet mich nach wie vor Überwindung, weil ich mich selbst kurz davon überzeugen muss, dass es okay ist zu kommunizieren, was mein Bedürfnis ist und mich nicht schlecht dafür zu fühlen, dass ich die andere Person mit ihrer Erregung „hängen lasse”. Das ist nicht meine Verantwortung.
In unserer Gesellschaft gilt es als unsexy, über Konsens zu reden
Über Konsens zu reden hat vieles einfacher gemacht und gleichzeitig schwerer. Ich habe zum einen angefangen, über meine Bedürfnisse nachzudenken und was mir bei körperlicher Intimität wichtig ist. Vor allem will ich inzwischen Klarheit haben, ob sich mein Gegenüber darüber bewusst ist, was wir tun könnten und wie viel davon ich überhaupt in diesem Moment möchte. Zum anderen habe ich angefangen, alle körperlich Begegnungen in meinem Leben durchzugehen und war ziemlich schockiert, als ich feststellte, dass ich nur sehr selten bis nie Menschen gefragt habe, ob sie das gerade überhaupt wollen, was zwischen uns passiert.
In unserer Gesellschaft gilt es als unsexy, über Konsens zu reden, also wird es selten gemacht. Uns wird eingeredet, die Romantik könnte dadurch verloren gehen oder gar die Aufregung und sexuelle Spannung zwischen Menschen. Dabei machen sexuelle Begegnungen so viel mehr Spaß, wenn ich Menschen dabei unterstütze, auch bewusst und lustvoll Nein sagen zu können. Das macht ihr „Ja” noch viel wertvoller.
Ich finde es traurig, dass ich erst mit Anfang/Mitte Zwanzig lerne, über Konsens zu reden. Ich habe es nie gelernt. Wo auch? In der Schule wird über Kondome und penetrativen Sex geredet, da war nicht einmal die Rede von lesbischen Sex, geschweige denn von anderen Formen und Möglichkeiten physischer Begegnungen. In Filmen wird das meiste nonverbal kommuniziert. Körpersprache wird gedeutet und auf Grund von Gestik und Mimik suggeriert, dass es okay ist, einander anzufassen und zu küssen. What the fuck? Wenn man sich nicht kennt, wie soll das überhaupt möglich sein zu deuten, dass jemand definitiv Lust hat mich zu küssen oder anzufassen?
Ich bin froh, dass ich angefangen habe, über Konsens zu reden, selbst wenn es so vieles in mein Feld der Wahrnehmung gerückt hat. Je häufiger ich ausspreche, dass ich sexualisierte Gewalt erfahren habe, umso weniger abstrakt fühlt es sich an. Es beginnt, sich wie ein Teil von mir anzufühlen, anstatt wie etwas, was ich abstoßen und loswerden will. Denn das könnte ich ohnehin nicht. Je häufiger ich es ausspreche, umso bewusster wird mir, dass es keine Kleinigkeit ist. Dass ich – wie bei so vielen anderen Situationen in meinem Leben – zu hart mit mir selbst umgehe. Ich habe meine Unsicherheit und Scham verurteilt, dabei ist das einzige, was ich hier verurteilen sollte, Us. Umgang mit mir.
Was würde ich mir wünschen, wenn ich noch einmal die Zeit zurückdrehen und in das Bewusstsein meines 15-jährigen Ich schlüpfen könnte? Ich glaube, meine Unsicherheit hätte an dem Abend mit U. und mir damals einen Moment Zeit gebraucht. Ich hätte es schön gefunden einfühlsam gefragt zu werden, ob und was ich gerade möchte. Und wenn U. schon so weit gekommen wäre, mich zu fragen, was ich will, dann hätte er vielleicht gemerkt, dass ich unsicher bin und nicht einfach wahllos angefangen, irgendwas an mir zu machen.
Meine Scham wird heute ersetzt durch Traurigkeit und Wut. Ich bin traurig, dass es mich so viel Zeit gekostet hat, bis ich soweit war mir die sexualisierte Gewalt selbst einzugestehen. Und ich bin wütend, dass ich U. nie werde sagen können, dass er sich scheiße verhalten hat, weil ich damals nach wenigen Monaten Bekanntschaft den Kontakt zu ihm abgebrochen habe. Je häufiger ich die Worte „sexualisierte Gewalt” in den Mund nehme, umso mehr realisiere ich, dass es zu meinem Leben gehört, ob ich will oder nicht.
Was mir also bleibt, ist mit anderen Menschen darüber zu reden und Texte wie diesen hier zu schreiben, denn je häufiger offen über sexualisierte Gewalt geredet wird, umso mehr reden wir hoffentlich über Konsens. Denn das ist dringend notwendig.
Dieser Text erschien zuerst auf kleinerdrei.org .
Das ist ein Gemeinschaftsblog, das 2013 von Anne Wizorek gegründet wurde. Zehn feste Autor_innen und sieben Kolumnist_innen schreiben hier regelmäßig über alles, was ihnen am Herzen liegt. Daher auch der Name kleinerdrei, der im Netzjargon für ein Herz steht: eben ein <3. Die Themen reichen dabei von Politik bis Popkultur und werden stets aus einer feministischen Perspektive betrachtet. Im Jahr 2014 wurde kleinerdrei in der Kategorie “Kultur und Unterhaltung” für den Grimme Online Award nominiert.