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Mädchen, wieso nehmt ihr ständig Schmerztabletten?

Foto: FemmeCurieuse/photocase.de Bearbeitung: jetzt

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Liebe Mädchen,

„Hat irgendjemand ‘ne Ibu dabei?“ – Dieser Satz gehört zu jedem Großraumbüro wie schlechter Automaten-Cappuccino und kalte Neonbeleuchtung. Meistens findet sich relativ schnell jemand, der behilflich ist. Und in den allermeisten Fällen sind die, die an diesem zeitlosen Büro-Alltags-Klassiker beteiligt sind, Frauen: diejenige, die die Tablette braucht, und diejenige, die sie aus der Tasche fischt.

Bevor ihr euch an der Frage verschluckt, wie an einer zu hastig herunter gespülten Tablette: Nein, wir halten euch nicht für wehleidig und ja, wir wissen, dass es Periodenschmerzen gibt und die so heftig sein können, dass wir uns das nicht vorstellen können. Trotzdem fällt uns auf, dass ihr  – auch abseits von Menstruationsbeschwerden – viel leichtfertiger zu einer Schmerztablette greift als die meisten Männer. Kopfschmerzen in der Arbeit? Schmerztablette. Kater nach dem Abendessen mit Freunden? Schmerztablette. Eine sich anbahnende Erkältung? Schmerztablette, weil: die wirken ja auch noch entzündungshemmend.

Neulich kam ich vom Fußballspielen direkt zu meinen Freund*innen in eine Bar. Humpelnd. Ein Gegenspieler war im Zweikampf zu spät gekommen, mein Knöchel mittlerweile blau und mein Gang nicht mehr ganz so rund. Nix Wildes, aber genug, um Fragen nach meinem Wohlbefinden auszulösen. Von meinen männlichen Freunden kam Gleichgültigkeit und wenig interessiertes Nicken, von meinen Freundinnen die nachdrückliche Aufforderung, eine Schmerztablette zu nehmen und Witze darüber, dass ich nur den harten Mann spielen wolle. Aber darum ging es mir wirklich nicht. Ich bin nur extrem vorsichtig mit den vermeintlich harmlosen Schmerzmitteln. 

70 Prozent der Medikamentenabhängigen sind Frauen

Ihr wisst doch auch, dass Schmerztabletten alles andere als ungefährlich sind. Die Nebenwirkungen können bei übermäßigem Konsum zu Magengeschwüren, Nierenversagen, Schwindel, Müdigkeit und, ja, chronischen Schmerzen führen. Mehr als 4,5 Millionen Deutsche missbrauchen Medikamente, nehmen also Arzneimittel zu häufig und leichtfertig ein. 2,3 Millionen Deutsche sind sogar süchtig nach ihnen. Und 70 Prozent der Medikamentenabhängigen sind Frauen.

Solche Zahlen sind doch ziemlich krass und zeigen, wie schnell aus einem lockeren Umgang mit der Ibu eine schlimme Krankheit werden kann. Warum fällt es euch so leicht, diese Gefahren zu verdrängen? Machen euch solche Zahlen nicht richtig Angst? Oder hat toxische Männlichkeit und das „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“, das vielen von uns von Kindheit an eingehämmert wurde, auch einfach einmal positive Auswirkungen?

Mit zur Seite geneigtem Kopf und unangenehm fürsorglichem Ausdruck in den Augen,

Eure Jungs

Die Mädchenantwort:

Liebe Jungs, 

toll, wie heroisch ihr selbst bei Schmerzen am Knöchel in Kneipen einen trinken geht. Trotzdem habt ihr uns mit eurer Frage nicht inspiriert, uns von nun an monatlich mit gekrümmtem Rücken und Wärmflasche auf dem Unterleib in Bars zu schleppen. Der Grund dafür ist relativ einfach: Wir haben keine Lust dazu, uns unnötig zu quälen. Warum Krämpfe aushalten, wenn wir wissen, wie sie verschwinden? Warum Kopfschmerz ertragen, wenn eine Tablette ihn lindert?

Vermutlich wird unsere Einstellung dadurch begünstigt, dass wir uns viel häufiger als ihr mit den immergleichen Schmerzen rumschlagen müssen: Viele von uns leiden wegen ihrer Periode garantiert einige Tage im Monat. In dieser Zeit kämen wir ohne Schmerztabletten oft nicht durch den Arbeitstag – Tablette. An Migräne leiden wir dreimal so häufig wie ihr – Tablette. Ihr produziert währenddessen auch noch mehr körpereigene „Schmerzmittel“, wir empfinden den Schmerz stärker – Tablette. Ihr seht: Wir haben unsere Gründe dafür, dass wir immer einen Streifen Ibus dabeihaben.

Dazu kommt dann noch, dass die meisten von uns es nicht für eine Tugend halten, Schmerzen aushalten zu können. Wir funktionieren lieber ordentlich – müssen wir auch. Weil wir (leider) viel häufiger als ihr nicht nur für uns selbst, sondern auch für andere Menschen (Kinder, Eltern, kranke Angehörige) die Verantwortung übernehmen. In vielen Berufen müssen wir außerdem erst noch beweisen, dass auch wir ein „starkes“ Geschlecht sind. 

Viele von euch scheinen Schmerztabletten vor allem als gefährliche Verführung wahrzunehmen. Das entnehmen wir nicht nur dieser Jungsfrage, sondern auch dem echten Leben: Wenn mal wieder einer von euch betont, nie auch nur eine einzige Aspirin genommen zu haben, dann kann man seine Brust förmlich schwellen sehen. Das ist zwar ein bisschen fies von euch, weil ihr anderen damit gleichzeitig suggeriert, sie seien einfach nicht so willensstark wie ihr. Andererseits, das geben wir schon zu, habt ihr natürlich auch echten Grund, eure Schmerzmittel-Abstinenz gut zu finden.

Im Moment des Schmerzes ist es uns einfach wichtiger, dass er JETZT verschwindet

Denn wir Frauen verdrängen es zwar oft, dürfen es hier aber wohl nicht verschweigen: Natürlich kann die regelmäßige Einnahme irgendwann zur Sucht werden. Und tatsächlich haben Schmerzmittel Nebenwirkungen. Sie können beispielsweise die Leber, den Magen und andere Organe stark angreifen. Das lesen wir auf dem Beipackzettel, das erzählt uns unsere Mutter, das ruft ihr uns zu, wenn wir im Büro Paracetamol gegen Ibus tauschen. Und doch ist uns im Moment des Schmerzes einfach wichtiger, dass er JETZT verschwindet. Denn wenn es brennt oder sticht oder beißt, denken wir doch nicht an das, was in einigen Jahren sein könnte? Wir wollen uns selbst lieber sofort helfen, anstatt weitsichtig und weise unsere Gesundheit für die Zukunft zu planen. Und es ist uns oft unerklärlich, wie ihr die Beherrschung haben könnt, über diesen Impuls hinwegzukommen.

Die meisten von uns werden also vermutlich nie mit euch Jungs in der Kneipe sitzen und einem von euch sagen, dass man das alles schon aushalten könne mit den Schmerzen. Wir werden euch nie lachend auf die Schulter klopfen und wie manche von euch sagen: „Ein echter Kerl kennt keinen Schmerz.“ Denn: Wie uneinfühlsam ist das denn? Wenn uns eine Freundin mit dieser Attitüde antworten würde, wenn wir gerade offensichtlich Schmerzen haben – wir wären beleidigt. Aber zum Glück täten unsere Freundinnen das ja nicht. Stattdessen würden sie in ihren Jackentaschen kramen und zusehen, dass sie eine Tablette auftreiben.

Eure Mädchen

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