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Mädchen, wieso diskutiert ihr nie über "das System"?

Foto: hannele / photocase.de; Collage: Daniela Rudolf

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Die Jungsfrage: 

Liebe Mädchen,

ich vermute, dass ich Teile der Antwort schon kenne. Es gibt nämlich ein Foto von dem Abend, an dem ich „das System“ zuletzt diskutiert habe: Der Typ, mit dem ich das getan habe, und ich stehen da an einer Treppe. Ein Fuß erhöht auf der ersten Stufe, der andere noch ebenerdig. Wir sind einander halb zugewandt, drücken beide die Brust leicht raus und wirken also insgesamt wie Captain Morgan, der ein Bein auf einem Rumfass oder einer Schatztruhe oder irgendeinem anderen Markige-Piraten-Kerle-Requisit aufgebockt hat. Will sagen: Wir stehen da wie die letzten Sauproleten (der ehemalige Kollege hat da mal einen sehr schönen Text zu geschrieben) und das wird sicher in eurer Antwort auftauchen.

Aber ganz reicht mir das nicht. Vielleicht also zuerst die Situation: Urlaub, zufällige Bekanntschaft – ein Paar aus Kalifornien. Er macht was mit Motivations-Seminaren und Selbstentwicklung und Potenzialausschöpfen in (so weit das bei diesen Themen eben geht) ganz erträglich. Und er sagte etwas wie: „Wenn ich jemals Kinder haben sollte, werde ich alles dafür tun, dass sie dem Schulsystem fernbleiben.“ Und dann kam was über selbstbestimmtes Lernen, bei dem ich – schon leicht angetrunken – an Namentanzen denken musste. Und dann kam was über das Potenzial, das „uns“ dadurch verloren geht.

Und dann war’s mir zu viel und ich insistierte mehr, als dass ich anmerkte, dass das ja sehr nett sei, was er da sage, aber dass er das, mit Verlaub und „no offense“, ja wohl nicht ganz zu Ende gedacht habe. Weil man Bildung nicht „VOM SYSTEM“ trennen könne. Und bei Bildung im Kapitalismus gehe es ja zu allerletzt um echte Wissensvermittlung und in erster Linie darum, Menschen auf soziale Schichten zu verteilen. Oder was er denn bitte glaube, warum sonst die Menschen, die in der Schule am wenigsten mitkommen, die kürzeste Ausbildung bekämen?!

Dieser Kram eben. Und bestimmt wurde ich dabei irgendwann ziemlich laut. Ich habe nämlich eine sehr laute Stimme. Und worauf ich hinaus will ist, dass die Frau, die mich gut kennt, irgendwann sehr leise wurde. Und die Frau, die den Potenzialfreisetzer vermutlich gut kennt, die auch. Beziehungsweise wandten sie sich bald einander zu und redeten über irgendwas anderes. Und manchmal schauten sie uns mit einem Seitenblick an, mit dem man auch kläffende Hunde bedenkt. Sehr kleine kläffende Hunde.

Und das ist halt immer so! Ich habe – von winzigen Ausnahmen abgesehen – noch nie erlebt, dass eine Frau eine dieser großen, dichten Systemdiskussionen (energisch) mitgegangen wäre. Und noch nie, nie habe ich es erlebt, dass sie sie angestoßen hätte. Man berichtet mir aber davon, dass ihr das angeblich schon tut. Angeblich auch energisch. Aber dann offenbar immer ohne uns.

Ich führe das, siehe oben, auch auf unsere und im Speziellen meine Lautstärke zurück. Aber da ist doch noch mehr. Wir sind sonst auch manchmal laut und prollig – in betrunken und nüchtern. Und da redet ihr trotzdem mit uns. Nur bei „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf“ (oder was in der Art eben), da wird’s immer still. Immer! Und ich will jetzt wissen, warum!

Schreit mal rüber

Eure Jungs

Die Mädchenantwort: 

maedchenfrage

Liebe Jungs,

 

nach drei bis fünf Bier sage ich gerne: „Der Kapitalismus ist schuld!“ Sogar ziemlich laut. Nüchtern erscheint mir das zu endgültig, aber betrunken kann ich in Diskussionen ganz gut grundsätzlich werden – außer, es sind Männer mit am Tisch. Dann steige ich schneller aus und ich kenne auch viele Frauen, die das so machen. Und das muss irgendeinen Grund oder mehrere Gründe haben, die ich jetzt versuchen will zu finden.

 

Wie du selbst ja schon gesagt hast, ist ein Grund das mit der Stimme. Männerstimmen sind oft lauter und dominanter und es ist nicht immer leicht, sich dagegen durchzusetzen. Aber es kommt ja auch immer darauf an, wer seine Stimme wie einsetzt. Und ich denke, das hat eher mit der Antwort auf deine Frage zu tun als irgendeine genetische Vorgabe.

 

Vermutlich wirst du mit den Augen rollen, wenn ich dir jetzt mit sowas komme (erst kürzlich musste ich mir nach Beantwortung einer Jungsfrage von einem anderen Mann den Vorwurf anhören, ich betreibe „übers Stöckchen springen“-Feminismus), aber: Der Begriff „Mansplaining“ ist ja nicht aus dem Nichts entstanden und etwas, was da dazugehört, ist das Unterbrechen. Selbst, wenn ihr uns gerade gar nicht im eigentlichen Sinne etwas mansplaint (also uns nicht etwas erklärt, was wir längst wissen), sondern bloß sehr engagiert diskutiert, unterbrecht ihr uns oft (was mit einer lauten Stimme natürlich auch sehr viel leichter ist als mit einer leisen, klar). Sowohl nüchtern, als auch betrunken – betrunken aber häufiger, weil ihr euer Handeln dann natürlich weniger reflektiert. 

Und unterbrochen werden ist sehr, sehr anstrengend. Ich zumindest resigniere dann irgendwann, weil mich diese innere Hektik, die durch den Gedanken „Sag es schnell, mach es kurz, sonst fährt dir jemand rein!“ ausgelöst wird, fertigmacht. Im Extremfall rede ich sogar gar nicht erst mit, wenn ich ahne, dass es auf Laut- und Unterbrochenwerden hinausläuft. Ich bin dann einfach schon prophylaktisch erschöpft. In reinen Frauenrunden passiert das seltener, weil die weniger laut werden oder weniger aggressiv, weil man sich da einfach nicht so oft unterbricht. Sie sind dadurch nicht weniger grundsätzlich. Sie sind nur anders. 

 

Die Politikwissenschaftlerin Tali Mendelberg von der Princeton University und der Politikwissenschaftler Christopher F. Karpowitz von der Brigham Young University haben über Männer und Frauen in Diskussionen das Buch „The Silent Sex“ geschrieben, das meine Wahrnehmung unterstützt: 

 

Zum einen haben sie beobachtet, dass Politikerinnen in ihren Redebeiträgen sehr viel öfter unterbrochen werden als Männer. Zum anderen haben sie für eine Studie verschiedene gemischtgeschlechtliche Gruppen darüber diskutieren lassen, wie man gemeinsam verdientes Geld am sinnvollsten aufteilen kann. Waren 80 Prozent Frauen am Gespräch beteiligt, waren die Lösungswege konstruktiver, die Frauen wurden kaum unterbrochen und einzelne Redebeiträge von Frauen und Männern waren ungefähr gleich lang. Waren nur 20 Prozent Frauen beteiligt, wurden diese sehr viel häufiger unterbrochen. Soweit ich weiß, wurde die Studie mit nüchternen Probanden durchgeführt.

 

 

Es hat was mit dem System zu tun!

 

Achtung, nächster Augenroll-Moment und nächstes Stöckchen, über das ich springen will: Ich fürchte, am Ende hat mal wieder das (ha!) System damit zu tun. Du weißt schon, der Klischee-Klassiker aus der Grundschule, mit dem braven Prinzesschen und dem Klassenclown. Zumindest kann ich für meinen Teil nicht bestreiten, dass mir als Kind sowohl explizit gesagt als auch subtil suggeriert wurde, dass ich mich als Mädchen im besten Falle leise und unauffällig zu verhalten habe. Dass ich nicht laut werden soll, dass Mädchen-Sein und Frau-Werden etwas mit Feinsinnigkeit und leisen Tönen und Empathie und Fürsorge und Vorsicht und Abwägen zu tun hat, und nicht mit Bestimmtheit und Urteile fällen und den Ton angeben. Quasi wie in der Tierwelt. Während die Löwen sich machtkampfmäßig anbrüllen, liegen die Löwinnen im Schatten einer Schirmakazie und blinzeln müde.

 

Und apropos Tierwelt: Wenn ich mir die Beschreibung deines Fotos so durchlese, sehe ich ja weniger Piraten vor mir als vielmehr zwei Gorillas, die sich auf die Brust trommeln. Da denkt man ja als nächstes immer an männliches Dominanzverhalten. Aber mittlerweile hat man herausgefunden, dass das Brusttrommeln ein kommunikatives Verhalten sowohl männlicher als auch weiblicher Gorillas ist. Könnte man also sagen: Liebe Frauen, trommelt doch bitte mit! Würde ich aber entgegnen: Gorillas sind zwar cool, aber wir sind keine Gorillas. Wir können das System auch diskutieren, ohne die Brust rauszustrecken und laut zu werden. Und dabei können wir sogar Bier trinken. Die Braukunst haben nämlich auch nicht die Gorillas erfunden.

 

Prost!

Eure Mädchen

 

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