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Zusammenarbeit im Start-up Jodel
„Lara! Lahara!“, ruft mir Alessio hinterher, als ich um ein Berliner Bürogebäude herumschleiche, in dem sich das Jodel-Hauptquartier befindet. Alessio Avellan Borgmeyer ist 27, Erfinder der App und Geschäftsführer des Unternehmens Jodel Venture GmbH. Er erkennt mich, weil ich offenbar tatsächlich Ähnlichkeit mit meinem Whatsapp-Profilbild habe. Wir sehen uns zum ersten Mal, weil sich unsere Berufswege heute kreuzen sollen. „Hast du noch so eine?“, fragt er und nickt in Richtung der Zigarette zwischen meinen Fingern. Das Gespräch am ersten (und einzigen) Arbeitstag im Jodel-Office beginnt wie auf einer Party. Ähnlich wird es später enden.
Die App Jodel gibt es seit 2014, damals hatten Alessio und seine Freunde Tim, Alex und Niklas sie in Aachen eingeführt. Schon nach zwei Tagen brachen die Server zusammen, so begeistert waren die Studenten dort von dem Konzept:
Auf Jodel wird anonym kommuniziert – mit Nutzern, die sich im Umkreis von zehn Kilometern befinden. Wer in München lebt, sieht also jeden Beitrag aus München, dafür keinen aus Freising, Berlin oder Saudi-Arabien. Zum Jodeln braucht man deshalb keine Freunde oder Follower. Jeder kann Texte oder Bilder mit der gesamten Community teilen, ohne mit seinem Namen dafür stehen zu müssen.
Die Idee dahinter: Menschen, die in der gleichen Gegend leben, sollen wieder mehr und ungehemmter miteinander kommunizieren. Durch die Anonymität findet offener Austausch statt, jeder ist im Gespräch erst einmal willkommen. In Deutschland ist die App mit dem Waschbär-Logo vor allem unter Studenten beliebt. Nun will Jodel aber auch vermehrt andere Bevölkerungsgruppen und Leute aus anderen Ländern erreichen.
Kann Arbeit wirklich so schön sein? Ein Tag bei Jodel soll mir das beantworten.
Das Unternehmen Jodel ist damit quasi das Paradebeispiel eines Start-ups: eine kürzlich gegründete Firma mit einer innovativen Idee und enormem Wachstumspotential. Und auch, dass Alessio und seine Mitgründer allesamt noch unter 30 sind, gehört irgendwie zum Start-up-Konzept: 2017 waren die Gründer in Deutschland im Schnitt erst 35 Jahre alt. Bei der Erstgründung sogar nur 28. Auch die Mitarbeiter deutscher Start-ups sind meist unter 35, und sehr selten über 45.
Dass die Arbeit bei einem Start-up für viele junge Menschen besonders attraktiv ist, beobachte ich auch immer wieder im eigenen Bekanntenkreis: Ganze Scharen ziehen von dannen, um die Berliner Gründerszene zu erkunden.
Immerhin stellt man sich die Arbeit bei Start-ups irgendwie ganz besonders toll vor: Alle Mitarbeiter arbeiten freundschaftlich im Team, zu flexiblen Zeiten an einer großen Idee. Dazu gibt es kostenlos Obst, Kickertische und Dartscheiben, ganz viel Mate und die Möglichkeit sein Hipstertum in Mom-Jeans und Oversize-Shirt auch im Büro auszuleben. Soweit die Sage von der perfekten Start-up-Welt. Aber, was ist da dran? Kann Arbeit wirklich so schön sein? Ein Tag bei Jodel wird mir das hoffentlich beantworten. Immerhin lebt das Start-up diese Unternehmenskultur angeblich wie kaum ein anderes. Die Gründer wohnen sogar zusammen in einer WG.
Alessio kommt gerade vom Mittagessen mit einem jungen Mann namens Samuel. Der wird vielleicht bald für Jodel arbeiten. Welchen Job er dabei genau machen würde, das soll sich noch herausstellen. Aber menschlich kennenlernen will man sich auf jeden Fall schon mal. Das ist, zumindest im Jodel-Universum, sowieso das Wichtigste: Dass man sich im „Office“ versteht.
Werte entstehen hier nicht zufällig, sie werden genau definiert
Denn wer bei Jodel arbeitet, muss vor allem eines erfüllen: Er muss die Werte des Teams teilen. Anders, sagt Alessio, klappt die Zusammenarbeit nicht. Und die ist ihm besonders wichtig. „Ich sehe Jodel als großes Gemeinschaftsprojekt. Alle sollten die Vision teilen, Jodel besser zu machen und Leute zu verbinden. Dabei müssen aber auch die Kernwerte des Unternehmens klar sein.“
Typisch Start-up, denke ich mir. Denn auch das macht ein Start-up aus: Dass die Unternehmenskultur einen hohen Stellenwert hat. Werte entstehen hier nicht wie bei anderen Unternehmen eher zufällig, sie werden genau definiert und schon bei der Auswahl der Mitarbeiter berücksichtigt. Bei Jodel sollen sie „open and humble“, „clever and bold“ und „playful and friendly“ sein. Wenn ich heute hier bleiben will, muss ich mich also dementsprechend verhalten: offen jedem gegenüber, freundlich und positiv – aufspielen soll ich mich aber auch nicht.
Das Start-up Klischee stellt sich spätestens in Minute zwei im Büro als zumindest teilweise wahr heraus: Alessio drückt mir eine Flasche Begrüßungs-Mate in die Hand. Dann folge ich Sebastian, der auf einem Mini-Skateboard Richtung Sofa und Whiteboard rollt.
Darum herum versammeln sich etwa dreißig junge Leute. Viele weitere sind über Skype zugeschaltet. Sie sitzen in Riga, Karlsruhe, Warschau, quer über den Globus verstreut. Die Wenigsten hier kommen aus Deutschland, Business-Sprache ist deshalb Englisch. Die einzelnen Teams präsentieren, was sie in der letzten Woche geschafft haben. Stichworte Community, Engagement, neue Manager, Expansion. Weil heute mein erster Tag ist, verstehe ich nicht allzu viel. Aber eines wird mir bewusst: Hinter der App steckt viel mehr Arbeit, als ich dachte. Weil sie anscheinend viel weiter verbreitet ist, als man es als Nutzer in seiner lokalen Blase mitbekommt.
Denn die App gibt es ja nicht nur in Deutschland, sie kann mittlerweile weltweit heruntergeladen werden. Ein Projekt ist deshalb die Expansion in die USA. Was sich dort durchsetzt, setzt sich ja oft auch automatisch in anderen Teilen der Welt durch. In vielen europäischen und einigen asiatischen Ländern braucht es den Erfolg der App in Amerika aber gar nicht erst: Alessio will mir zwar keine genauen Zahlen verraten, erzählt aber, dass Jodel in etwa zehn Ländern schon längst viel genutzt wird. So etabliert sich in Saudi-Arabien zum Beispiel gerade ein Hashtag, über den die Anonymität Jodels missbraucht wird. Den muss das Moderationsteam jetzt blocken – aber auch sicherstellen, dass der Missbrauch nicht trotzdem einfach anders weitergeht.
2013 hätte sich Alessio nicht ausmalen können, dass er fünf Jahre später mit Problemen in Saudi-Arabien konfrontiert würde. Damals nämlich kam er gerade erst von seinem Auslandsjahr in den USA zurück und hatte noch nicht viel mehr als „so ein Hirngespinst“, wie er heute sagt. „Ich war irgendwie auf den Gedanken gekommen, wie witzig das wäre, wenn du eine Whatsapp-Gruppe mit Freunden hättest, bei der man keine Ahnung hat, wer denn eigentlich was schreibt. Ich dachte, dass sich dann die ganze Gruppendynamik verändern würde und alles viel ehrlicher und authentischer wäre. Es wäre nicht mehr wichtig, wer was sagt. Sondern nur noch, was gesagt wird.“
Alessio stellte die Idee seinen Freunden vor, wenig später waren drei von ihnen mit an Bord. Sie bauten eine App namens „TellM“, quasi ein anonymer Newsfeed für Freunde. Damit tourten sie durch die USA, stellten ihr Produkt an den Unis vor. „Die Tour an sich war erfolgreich, die Idee kam gut an. Aber das Produkt war noch nicht gut.“ Die Studenten luden sich die App zwar herunter, benutzten sie dann aber nur wenige Tage. Der Kritikpunkt, den die Nutzer dann immer wieder aussprachen: „Warum sehe ich denn hier nur Leute, die ich schon in meinem Telefonbuch habe? Warum sehe ich nicht einfach jeden auf dem Campus?“
Als Alessio und seine Freunde also feststellten, dass sie sich nicht nur auf die Anonymität, sondern auch auf den Standort der Nutzer konzentrieren müssten, schien das Projekt schon am Ende. Die anderen gaben auf, sie glaubten nicht mehr an das Produkt. Alessio machte alleine von Deutschland aus weiter.
Als der neue Anlauf konkreter wurde, suchte er sich wieder Hilfe. Und fand sie – abermals im Bekanntenkreis. Alex, Niklas und Tim fanden die Idee gut und halfen ehrenamtlich mit, bis die App zuerst an der Uni in Aachen, an der drei von ihnen studiert hatten, ausgerollt wurde. Die App kam von dort an alle Unis und Orte in Deutschland, nach einem Jahr knackte die Nutzerzahl die Millionen-Marke. Das Projekt wurde zum erfolgreichen Unternehmen, die vier Gründer machten es zu ihrem Hauptberuf. Mit der Zusammenarbeit wuchs auch die Freundschaft. Als Alessio 2014 eine Wohnung suchte und dann zwar eine sehr schöne, aber wenig bezahlbare fand, überredete er die anderen, mit ihm zusammen dort einzuziehen.
Um 18.01 Uhr geht im Büro die Musik an. Echt wahr, so fadenscheinig pünktlich beginnt man hier den Feierabend. Denn nur Einzelne hören tatsächlich auf, zu arbeiten. Alessio hackt jedenfalls noch fleißig auf die Tastatur ein. Und auch ich hab noch zu tun: „Prost!“ Dieses Wort leitet gepaart mit einem Klirren meine Konferenz mit der Grafik ein.
Jakob, Sebastian und Alex sitzen mit mir in einem verglasten Raum und diskutieren bei einem Bier über Farben, Größen, Waschbär-Pupillen und was man für Jodel nicht alles so designen muss. Bei den Diskussionen um die Farbe „gelb“ komme ich noch mit. Sobald es ans Eingemachte geht, konzentriere ich mich aber darauf, mein Bier zu trinken und durch die Glaswand zu schauen. Im großen Büro versuchen die Amerikanerinnen schon, Nüsse mit dem Mund zu fangen, Tim spielt mit einem Fußball herum. Nebenan sitzt Alessio, allein vor seinem Laptop, in seiner eigenen Glaskammer. Er sieht geschäftig und irgendwie wichtig aus. Ich glaube, wichtiger als er gerne aussehen würde.
Er weist die „Unterstellung“ – so empfindet er es, glaube ich –, dass er etwas Besonderes sei oder erreicht habe, immer wieder von sich. Sogar seine Position als CEO versteht er in der Hierarchie nicht als „ganz oben“, wie ich ihm vorschlage. Er glaubt: „Das muss man umdrehen. Ich bin nicht dazu da, rumzukommandieren. Ich bin eher an der Basis, um sicherzustellen, dass meine Leute haben, was sie für ihre Arbeit brauchen.“
Das macht er anscheinend ziemlich gut. Jeder, der heute mit mir spricht, erzählt mir, dass er sich bei Jodel wohl und wertgeschätzt fühlt, dass es Spaß macht, hier zu arbeiten. Das Büro wirkt auf mich auch ziemlich gut ausgestattet: Es gibt viel Platz, schicke Computer, Getränke umsonst. Und das, obwohl die Jodel-App kostenlos ist und bisher werbefrei war. Das Unternehmen ist finanziell also noch von Investoren abhängig, will sich aber irgendwann eigenständig finanzieren können. Jodel beginnt deshalb gerade damit, erste Werbungen zu schalten. „Wir testen das alles noch. Das Ziel ist, dass die Anzeigen über die Zeit immer lokaler werden“, sagt Alessio.
Ich weiß noch nicht so recht, wie ich das alles finden soll. Der Tag im Jodel-Team hat Spaß gemacht. Aber ob ich selbst ein Leben führen wollte, in dem ich 24/7 mit meinem Job beschäftigt bin? In dem ich die Arbeit nicht aus meinem Privatleben herausbekomme und andersherum? Würde ich bei all den Bier- und Privatgesprächsverlockungen überhaupt noch zum Arbeiten kommen?
Ich glaube, eine zeitlang in einem Start-up zu arbeiten, könnte eigentlich jedem jungen Menschen gut tun: Man lernt tolle Leute kennen, arbeitet an einem großen Projekt, findet im besten Fall so etwas wie Sinnhaftigkeit in seinem Tun. Aber eben nur eine zeitlang. Denn ich sehe ein Problem an der hippen Unternehmenskultur eines Start-ups:
Mich beschleicht schon am ersten Tag das Gefühl, rund um die Uhr cool sein zu müssen, damit ich noch ins Team passe. Denn alle anderen hier sind das ja: cool, nett, eng miteinander. Ich will deshalb nicht nur zum Kollegen-, sondern auch zum vertrauten Kreis gehören. Die Folge: Ich traue mich weniger, private Schwächen zu zeigen als in einem Team, das mir auf persönlicher Ebene egal sein kann, in dem ich mich nur auf meine fachlichen Kompetenzen konzentrieren muss. Im Zeitraum von zwölf Stunden kann ich das Immer-Cool-sein bestimmt schaffen. Zwölf Jahre oder auch nur Monate lang eher nicht.
Es ist weit nach Mitternacht, als ich mich in Alessios Zimmer aufs Sofa sinken lasse. Wir haben vorher einen Umweg über die Wohnung eines Freundes der WG – selbst Gründer eines jungen Unternehmens – gemacht, dort noch weiter getrunken und über Start-ups gesprochen. Jetzt sind wir endlich hier, im Privaten, und doch immer noch im Jodel-Universum. Der Waschbär guckt mich von überall her an. Er verziert Vasen, Ordner, Pinnwände, ein Whiteboard und Caps.
Gegen zwei Uhr morgens sind Alex und Alessio plötzlich ganz aufgeregt, während ich immer müder werde und nur noch mit einem halben Ohr zuhöre, bis sie aus der Business-Language übersetzen: „Lara, du warst gerade dabei, wie wir die Lösung für ein großes Problem gefunden haben.“ Gut, denke ich mir. Dann hab ich heute ja so ziemlich alles gesehen. In der U-Bahn zu meinem Nachtlager streift mein Blick den Handy-Bildschirm meiner Sitznachbarin. Sie jodelt gerade. Und ich freue mich darüber. Irgendwie, denke ich mir, sind wir Teil des gleichen Teams.