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„Ich bin Student / Blogger / Idealist“

Foto: Toa Heftiba, Unsplash / Collage: jetzt.de

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Angelina Kirsch ist „Curvy Model/ TV Host/ @letsdance 2017/ MSC Promotion/ Bodyactivist/ passioned musician“. Leonardo DiCaprio ist „Schauspieler/ Umweltschützer“. Andreas Bourani nutzt zwar keine Schrägstiche, aber Kommata, um sich selbst als „Musiker, Optimist, Philanthrop und Weltbürger“ zu bezeichnen. Und auch die Normalos setzen fleißig Slashs: „Student/ Blogger“ ist ein Klassiker. „Sekretärin/ Model“ ist bei den Teilnehmerinnen des Bachelors besonders beliebt. 

Kaum eine Instagram-Biografie scheint ohne den Schrägstrich (oder manchmal eben auch das Komma) und die damit verbundenen Selbstbezeichnungen existieren zu können. 

Aber warum? Damit wir uns besonders fühlen können? Oder weil es eine tolle Möglichkeit ist, die ganze Bandbreite der eigenen Persönlichkeit darzustellen? Während wir uns auf Linkedin und Facebook meist für eine Berufsbezeichnung entscheiden, bietet Instagram unbegrenzte Möglichkeiten, uns selbst coole und individuelle Labels aufzudrücken. 

Man könnte das jetzt als digitale Angeberei abtun. Sagen, dass das Schrägstrichsetzen jenen hilft, die sich außergewöhnlicher fühlen wollen, als sie tatsächlich sind. Am besten noch mit erfundenen Berufsbezeichnungen wie „Entrepreneur / Marketing Berater“. Und natürlich lassen Schlagwörter, wie Bourani sie verwendet („Optimist und Weltbürger“) auch den Bäckereifachangestellten von nebenan noch interessanter wirken. 

Aber vielleicht steckt hinter dem Schrägstrich viel mehr als bloße Angeberei. Vielleicht nutzen wir Instagram, um uns nicht nur im echten Leben, sondern auch digital von alten Strukturen zu befreien? Vielleicht hat die Schrägstrichisierung auch mit den Anforderungen zu tun, die unsere digitale Präsenz an uns stellt? 

Die zweite Beschäftigung steht oft für etwas, das uns wichtig ist: ein Hobby, Werte, Ansehen

Viele Menschen üben heute mehr als nur einen Beruf aus und haben die Möglichkeit, mehr als nur eine Leidenschaft auszuleben. 

In Deutschland gehen laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung mehr als drei Millionen Menschen einer Nebentätigkeit nach. Das sind doppelt so viele wie noch 2003. Oft wird dann ein zweiter Job angenommen, wenn das Gehalt nicht ausreicht. Viele Arbeitnehmer entscheiden sich aber auch für einen zweiten Job, um den Hauptjob zu ergänzen – da geht es dann nicht ums Geld, sondern um Prestige oder Spaß. Die zweite Beschäftigung steht oft für etwas, das uns besonders wichtig ist: ein Hobby, bestimmte Werte oder gesellschaftliches Ansehen.

Die „Büroangestellte / Buchautorin“ bringt mit ihrem Schrägstrich beides unter einen Hut: einen geregelten Job mit sicherem Einkommen und die Möglichkeit, auch ihre kreative Seite auszuleben. Ihr Zweitberuf macht ihr Spaß und bringt ihr im Zweifelsfall sogar mehr Ansehen. Natürlich nur dann, wenn dieser Schrägstrich so auch wirklich gelebt wird. Ansonsten ist er eben doch nicht mehr als digitale Angeberei. 

Der Schrägstrich ist also nicht immer nur ein Ausdruck dafür, dass wir alle gerne etwas Besonderes wären und mehr mit unserem Leben machen möchten – sondern auch oft der Beweis dafür, dass genau das möglich ist. Denn Fakt ist: Wir müssen uns heute nicht mehr so festlegen wie früher. Ein Jobwechsel mitten im Berufsleben? Ganz normal! Leidenschaften ausleben? Immer mehr entscheiden sich gegen eine sichere Bürostelle und für ein Leben als Yogalehrerin, Cupcake-Bäcker oder digitaler Nomade. Alles scheint möglich zu sein. Selbstverwirklichung ist uns heute so wichtig wie keiner Generation zuvor. Oder vielmehr:  Wir habe eine echte Chance darauf.

Doch so verständlich der Wunsch nach Selbstverwirklichung und einem atemberaubenden Leben auch ist: Warum reihen wir unsere persönlichen Labels öffentlich und unaufgefordert in unserer Instagram-Biografie auf? Denn immerhin können wir doch auch einen tollen Beruf und hundert aufregende Hobbys ausüben, ohne uns selbst als „Marketing Experte / Fußballer / Veganer“ zu bezeichnen. Warum diese digitale Zurschaustellung unserer selbstgesetzten Labels?

Auf Instagram müssen wir alle unsere sozialen Kreise auf einmal ansprechen

Hier spielt die besondere Nutzweise von Instagram eine entscheidende Rolle, erklärt Mediensoziologin Nicole Zillien. Diese unterscheidet sich grundlegend von der Art und Weise, wie wir Personen im echten Leben begegnen. 

Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellte der Soziologe Georg Simmel fest, dass der Kern der Individualisierung die Kreuzung unserer sozialen Kreise ist. Und während diese sozialen Kreise damals noch rein analog und überschaubar waren, treffen sich in den sozialen Netzwerken heute alle unsere sozialen Kreise an einem Punkt: unserem Instagram-Profil. Nachbarn, Kollegen, Freunde, Familie und mitunter auch Wildfremde werfen ein Blick darauf. 

Während wir im echten Leben jeder dieser Gruppen in einer bestimmten Rolle gegenübertreten und von Angesicht zu Angesicht kommunizieren, haben wir auf Instagram nicht die Möglichkeit, auf jedes Gegenüber spezifisch zu reagieren. Stattdessen müssen wir es schaffen, alle unsere sozialen Kreise auf einmal anzusprechen. Der konkrete Kontext, der ein Gespräch für uns sonst so einfach macht, verschwimmt. Soziologen beschreiben dieses Phänomen als „context collapse“. „Da man den unterschiedlichen ‚Adressaten‘ in unterschiedlichen Rollen begegnet, kommt es dann zur Häufung an Selbstbeschreibungen“, erklärt Nicole Zillien. 

Mit der Berufsbezeichnung in meinem Profil spreche ich den Kollegen an, mit dem Hobby meine Freunde und mit der Lebenseinstellung jeden, der per Zufall auf meinem Profil landet. Auf diese Weise versuchen wir, mit nur wenigen Schlagwörtern all unsere sozialen Kreise gleichermaßen anzusprechen. Und der Schrägstrich in unserer Instagram-Bio ist die moderne Waffe, um die verschiedenen Rollen gleichzeitig zu erfüllen – egal, ob nun tatsächlich etwas hinter dem selbstgewählten Label steckt oder nicht. 

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