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Survival-Kolumne: Smalltalk auf dem Heimweg mit dem Kollegen
Nicht alles im Leben ist freiwillig. Die Survival-Kolumne ist Anlässen gewidmet, denen wir uns stellen müssen – ob wir wollen oder nicht. Ein Leitfaden zum Überleben. Heute: Die S-Bahnfahrt mit dem entfernten Arbeitskollegen.
Freunde seid ihr nicht. Bekannte auch nicht. Kollegen – naja. Kollegen, das klingt nach Gegenseitig-auf-die-Schulter-Klopfen, Kichern am Kaffeeautomaten, gute Arbeit, Kollege, später Bier? Sowas kommt bei euch nicht vor. Eure Vornamen kennt ihr eigentlich nur, weil Siezen out ist. Ihr sitzt ja auch in völlig verschiedenen Räumen, manchmal vielleicht für eine halbe Stunde im gleichen Konferenzzimmer. Aber jetzt, da sitzt ihr euch gegenüber, zu zweit, von den anderen Fahrgästen mal abgesehen. Der Zufall ist ein launiger Sadist. Ihr habt zur gleichen Uhrzeit den sogenannten Stift fallen lassen. Verdammt! Am S-Bahn-Gleis dann Blickkontakt. Es hätte dabei bleiben können.
Für eine ehrliche Antwort bräuchte es leider übermenschlichen Mut
Kollege Jörg aber ist auf dich zugelaufen und hat mit der ultimativ rhetorischen Frage „Na, Feierabend?“ so etwas wie ein Gespräch eröffnet. Jetzt noch einen Ausweg zu finden, vielleicht mit Ehrlichkeit, zum Beispiel einem „Du, ich würde jetzt lieber lesen/Musik hören/jonglieren“ – dafür bräuchte es leider übermenschlichen Mut und den richtigen Ton. Beides hast du nicht, sonst würdest du diesen Text ja nicht lesen.
Vor euch liegen nun also volle 20 Minuten Fahrt, weil solche Jörgs wohnen natürlich zwei Haltestellen hinter dir, sie steigen garantiert nie vor dir aus. Was Jörg in eurem Laden so arbeitet, weißt du dank totaler Arbeits-Entfremdung genau so wenig wie er von dir, oder er von sich, oder du von dir. Dings-Controlling? Sowieso-Creator? Eure einzige Gemeinsamkeit, der Arbeitgeber, fällt also weg. Zu viel Ahnungslosigkeit, Fallstricke, und nach acht Stunden Arbeit über Arbeit reden – fürchterlich. Lästern fällt auch weg, keine Vertrauensbasis.
Was nun also wichtig ist: Themen finden! Das mit dem Feierabend ist eine Sackgasse, die man höchstens mit einem „Ja, du auch?“ zurückspielen kann. Bringt aber nur Schweigen. Von nun an muss der Anspruch sein: Irgendwie habt ihr euch das ja beide eingebrockt, also macht was draus! Schuldzuweisungen und Verweigerung sind zwecklos, Small-Talk auch. Ihr habt schließlich 20 Minuten vor euch! Zu viel Zeit für Wetter, wo wohnst du, ah, schöne Gegend.
Beste Strategie: ganz tief eintauchen in den Jörg
Versuch’ einfach, dir die ganze Sache als Date vorzustellen. Was macht man bei einem Date? Man trifft sich an einem belebten Ort, an dem man im Zweifelsfall über Dinge in der Umgebung reden kann. Oder – und hier vergessen wir den Date-Vergleich auch gleich wieder: Wo die Menschen um euch herum das Gespräch übernehmen können. In einem Abteil sitzt ein betrunkener Verschwörungstheoretiker? Eine aufgekratzte Teenie-Gruppe? Setzt euch dazu, möglicherweise entlasten euch Monologe über Merkels Chemtrails oder diesen megacuten Yannik aus der 10b von eurer eigenen Gesprächspflicht. Gemeinsames Hörspiel sozusagen. Schön. Aber leider eher unwahrscheinlich.
Die S-Bahn ist leer oder verschwiegen? Ok, ihr müsst selbst reden, hilft nichts. Von nun an gilt: Ganz tief eintauchen in den Jörg. Kein Geplänkel, sondern maximale Tiefe. Lehn’ dich nach vorne wie Reinhold Beckmann und frage, leicht von unten heraufschauend: „Wohin mit all der Sehnsucht, Jörg?“ oder auch „Jörg, gegen wen würdest du lieber antreten: Gegen hundert entengroße Pferde oder gegen eine pferdegroße Ente?“ Kratze dich dabei nachdenklich am Kinn.
Das sind auf den ersten Blick zwar irritierende Einstiegsfragen, sie können aber nur in zwei begrüßenswerten Szenarien enden. Erstens: Jörg lässt dich an seinem Inneren teilhaben, ihr diskutiert Ausstiegsutopien oder die Verteidigung gegen Pferdeentenherden, redet auch dann weiter, wenn die S-Bahn schon längst in den Betriebsbahnhof einfährt. Ihr seid nun mehr als Kollegen. Ihr seid unzertrennlich. Oder, zweites Szenario: Jörg reagiert perplex angesichts so viel Unmittelbarkeit und wird sich sein „Na, Feierabend?“ in Zukunft sparen. Du hingegen hast alles versucht und kannst dir dafür selbst auf die Schulter klopfen. Ihr könnt euch nun für den Rest der Fahrt anschweigen und für immer das sein, was ihr euch vorher schon wart: egal.