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Warum es keine Gehaltsverhandlungen geben sollte

Lucas1989 / photocase.de

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Hey Boss, ich weiß, es ist gerade nicht günstig, aber was ich kurz sagen wollte, naja, ich brauche mehr Geld.

Sie gucken so skeptisch, Boss.

Ich weiß, der Gesprächseinstieg war reichlich suboptimal, zu verdruckst und gleichzeitig zu direkt. Kein Auftritt, der ausstrahlt, dass ich die Arbeitnehmertrophäe bin, mit der dieser Betrieb glänzt und der er deswegen nun langsam mal ordentlich Geld rüberschieben sollte.

Man muss Sie, Boss, nehmen wie ein wildes Kapitalistenraubtier, das es mit den richtigen Tricks zu zähmen gilt. Vielleicht sollte ich Sie erst einmal fragen, ob es in Ordnung ist, wenn ich nächsten Dienstag eine halbe Stunde später komme? Arzttermin. Kein Problem? Wunderbar. Und wie wäre es mit einem Gespräch über eine Gehaltsanpassung?

Studien zeigen, dass Menschen uns umso eher einen größeren Gefallen zu tun bereit sind, wenn sie bereits einer kleinen Gefälligkeit zugestimmt haben. Wer einem Arzttermin akzeptiert, sagt auch zu einem Gespräch übers Geld nicht so schnell nein.

Wie viel ich mir vorstelle? Sagen wir zwei Millionen Euro brutto jährlich plus Firmenwagen. Haha, jaja, schon klar.

Aber auch das ist angeblich ein wissenschaftlich gesicherter Trick zur Dressur der Spezies Chef: Der Psychologe Todd Thorsteinson von der Universität von Idaho hat herausgefunden, wie immens wichtig die zuerst genannte Summe in einer Gehaltsverhandlung ist – selbst, wenn sie so astronomisch hoch ist, dass man sie selbst von ganz oben aus der Vorstandsetage nur mit einem Teleskop erfassen kann. Gegenüber einer Fantasiezahl erscheint dann alles andere als vertretbar.

Spaß beiseite, was ich mir wirklich vorstelle?  Ich dachte so an 52.345,76 Euro.

Da gucken Sie, nicht wahr, Boss? So genau weiß ich das? Wieder so ein Trick: Krumme Zahlen sind strategisch besser als gerade, erklärt ein Psychologe der Universität des Saarlandes. Sie suggerieren, dass man seinen Wert bis hinters Komma zu beziffern weiß. Da schrecken Sie, Boss, eher mal davor zurück, mich herunterzuverhandeln.

Das Netz ist voll mit Ratschlägen dieser Art, und Universitäten kreuz und quer im Land rüsten ihre Studenten mit Gehaltsverhandlungskursen für den Einstieg in den Arbeitsmarkt. Aber fast nie hört man den Aufschrei darüber, für was für ein unwürdiges Spiel man hier trainiert wird. Was für einen Eiertanz wir hier eigentlich aufführen müssen, Sie, Boss, und ich.

In meinem Freundeskreis bin ich niemandem begegnet, den Gehaltsverhandlungen in Jubelstimmung versetzten. Die Gespräche sind so beliebt wie Termine beim Kieferchirurgen.

Wenn jeder den Lohn selbst erstreiten muss, setzen sich nicht Fleiß und Tüchtigkeit durch

Diesen Unwillen kann man als ein hinderliches Zusammenzucken betrachten, das es schnell wegzucoachen gilt. Oder als Hinweis darauf, dass mit dem Setting tatsächlich etwas grundsätzlich nicht stimmt.

Die Tipps, die kursieren, tun so, als könnte sich das Lamm vor dem Metzger retten, wenn es ein paar Seminare in Gesprächsführung absolvierte. Sie und ich, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, können sich auf Augenhöhe begegnen – das ist die Botschaft, die die Karriereratgeber unaufhörlich suggerieren. In Wahrheit bleiben wir Ungleiche: Ich brauche meinen Job sehr viel dringender als Sie mich als Mitarbeiter. Ich bin sehr viel ersetzbarer für Sie als Sie für mich. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt mag die Verhandlungsmacht zwar hier und da verschoben haben. Aber ganz eingeebnet wird dieser strukturelle Unterschied praktisch nie. Selbst bei den angeblich so händeringend gesuchten IT-Experten kommen auf 100 offene Stellen derzeit 147 arbeitslose Fachkräfte.

Boss, was mich am meisten aufregt: Sie nutzen diese Schwäche gezielt aus, wenn Sie mit jedem Mitarbeiter das Gehalt individuell aushandeln wollen. Und zwar auf eine besonders perfide Art: Das Gehaltsverhandeln vermittelt dem Arbeitnehmer ein Gefühl von Eigenmächtigkeit, obwohl er in Wahrheit gerade übervorteilt wird. Jeder kann sich einbilden, das Beste für sich herausgeholt zu haben, während in Wahrheit alle sehr viel weniger bekommen, als möglich wäre.

Der Verhaltensökonom Michael Norton und seine Kollegen wiesen vor einigen Jahren in ihren Experimenten etwas nach, was die Wissenschaft seither als den Ikea-Effekt kennt: Möbelhaus-Kunden halten Schränke und Tische für wertvoller, wenn sie sie selbst aufgebaut haben – ein psychologischer Trick, mit dem Einrichtungsketten mit verhältnismäßig schlechtem Sperrholz verhältnismäßig gut verdienen können. Ich fürchte, mit dem Do-it-yourself-Einkommen ist es wie mit dem Billy-Regal. Wenn man so viel Mühe reingesteckt hat, kann es so schlecht nicht sein.

Dabei nutzt es den meisten Arbeitnehmern, wenn sie das Verhandeln denen übertragen, die ihre Interessen besser und nachdrücklicher vertreten können. Studien zeigen, dass die Löhne tendenziell dort höher sind, wo Gewerkschaften mit Arbeitgebern Tarifverträge abschließen. Die Gehälter driften außerdem weniger weit auseinander. Kurz: Die Bezahlung wird besser und gleicher, wenn nicht jeder einzeln zum Boss ins Büro marschieren muss.

Man kann darüber streiten, aber für mich ist Gleichheit ein Wert an sich: Ich fühle mich wohler, wenn ich weiß, dass ich so viel verdiene wie meine Kollegen und sie so viel wie ich. Es erspart die unnützen Profilierungen am Rande, die Aufgeblasenheit, den Konkurrenzdruck. Es macht es einfacher, sich wirklich gemeinsam der eigentlichen Arbeit zu widmen. 

Klar, Boss, ich ahne Ihren Einwand: Es wäre doch unfair, wenn diejenigen, die mehr leisten, in die gleiche Einheitslohnschublade gesteckt würden wie alle. Und vielleicht zwinkern Sie mir noch konspirativ zu: Das sei doch etwas, das gerade mir als Leistungsträger einleuchten müsste.  

 

Aber ich bezweifle, dass das Argument stimmt. Wenn jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter den Lohn selbst erstreiten muss, setzen sich nicht Fleiß und Tüchtigkeit durch (mal abgesehen davon, dass oft gar nicht klar ist, was das überhaupt ist); es triumphieren die übersteigerten Egos, die eingefleischten Selbstdarsteller und die geschmeidigen Doppelgänger der Chefs. Die Zeche dafür zahlen dann diejenigen, die sich weniger taff anstellen. Das Arbeitsleben wird ungerecht, wo die Bezahlung zur individuellen Verhandlungssache wird.

 

Leider passiert das zunehmend. Ende der 90er Jahre arbeiteten noch 73,6 Prozent aller Arbeitnehmer in Deutschland unter einem Tarifvertrag, der ihr Gehalt regelte. Heute sind es gerade einmal 56 Prozent. Tendenz: fallend. Darüber sollte man vielleicht endlich einmal reden statt uns jungen Arbeitnehmer immer wieder mit Verhandlungstipps zuzuballern.

 

Hey Boss, um es klar zu sagen: Ich will mich nicht mit Ihnen an einen Tisch setzen und übers Geld reden. Ich will das, was alle bekommen. Ich will, dass alle das bekommen, was ich bekomme. Vielleicht klopfe ich in zwei, drei Wochen noch einmal an. Ohne die Unbeholfenheit, wie ich in einer Situation, in der ich unmöglich die Oberhand haben kann, das Thema am besten anschneide. Ohne die zuvor fein aus Ratgeberblogs destillierten Hintergedanken, mit welchen Fantasiesummen und krummen Zahlen ich Sie vielleicht doch noch ein klein wenig austricksen könnte.

 

Aber dafür bringe ich die Kollegen mit.

 

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