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Transparenz von Gehältern: Gute oder schlechte Idee?
Eines nicht ganz so fernen Tages wird es vielleicht die passende App geben: Einen Namen eintippen, ein Gerät in der Nähe orten, ein Gesicht scannen und schon spuckt sie uns eine Zahl aus:
Der Paketbote: 1.405,62 Euro.
Die Verkäuferin: 1.002,40 Euro.
Der Abteilungsleiter: 5.500,23 Euro.
Und der nervige Typ von oben, der gerade wieder seine bescheuerte Musik voll aufgedreht hat: 456,07 Euro. Kein Wunder. Wir können jederzeit und überall Nachrichten lesen, den Wetterbericht abrufen, Musik hören. Und nun wissen wir auch in Sekundenbruchteilen, was unsere Mitmenschen verdienen:
Peter: 1.506,89 Euro.
Maria: 2.665,50 Euro.
Frauke: 3.140,00 Euro.
Lukas: 642,10 Euro.
Unser Gehalt ist keine Privatangelegenheit mehr, nichts Intimes, sondern eine präsente Zahl, immer verfügbar, täglich aktualisiert.
Eine Welt, in der jedes Geheimnis beim Geld unmöglich geworden ist: Ist das eine befreiende Vorstellung? Oder eine beklemmende? Ginge es im Arbeitsleben fairer zu? Oder werden wir nur noch härter im Urteil über andere? Wir stellen uns unser Land immer noch gern als einigermaßen egalitäre Mittelschichtsgesellschaft vor – aber was passiert, wenn wir dieses wohlig-verschwommene Bild einmal scharfstellen?
Wäre eine Welt ohne Geheimnisse ums Geld wirklich befreiend?
Auf vielerlei Weise hat sich das Leben geändert, seit es die Daten gibt. Vermietern können wir endgültig nichts mehr vormachen. Bei Tinder gibt es neben dem Entfernungs- nun auch einen Geldfilter. Angeblich benutzt den aber niemand. Es ist immer klar, wer beim ersten Date bezahlt. Oder auf wen die Runde geht, wenn man sich auf ein Bier trifft.
Im Moment wird viel über Gehaltstransparenz geredet. Seit kurzem ist ein Paragrafenwerk mit dem sperrigen Namen „Gesetz zur Förderung der Transparenz von Entgeltstrukturen“ in Kraft. Und so sperrig sind auch die Informationen, auf die Mitarbeiter (zumindest in größeren Betrieben) künftig Anspruch haben: Sie dürfen nicht etwa die Gehälter einzelner Kollegen erfragen, sondern nur das mittlere Vergleichseinkommen einer Gruppe von mindestens sechs Mitarbeitern mit vergleichbarer Tätigkeit – wobei es selbst dann noch nicht mal auffallen würde, wenn einer in dieser Gruppe das Fünfhundertfache der Übrigen verdiente: Als das zu nennende Vergleichseinkommen sieht das Gesetz nämlich nicht etwa den Durchschnitt vor, der durch die besonders Begünstigten nach oben gezogen würde, sondern nur das Einkommen, das von mindestens der Hälfte der Vergleichsmitarbeiter erreicht wird. Aha. Das ist wie FKK mit großflächigen Pixelbalken: Zu sehen gibt es wenig. Eigentlich erstaunlich, dass das bisschen Nacktheit in diesem Land schon so umkämpft war.
Aber nehmen wir diesen kleinen Schritt mal zum Anlass, um uns eine Utopie auszudenken: die radikale Entblößung einer Gesellschaft in allen Gelddingen. Was würde passieren?
Frauke (3.140,00 Euro) und Maria (2.665,50 Euro) arbeiten seit drei Jahren gemeinsam in der Entwicklungsabteilung eines Automobilzulieferers. Nie wären sie auf die Idee gekommen, dass sie ihrer Firma so unterschiedlich viel wert sein könnten; und in dem Glauben an ihre Gleichheit sind die Kolleginnen mit der Zeit Freundinnen geworden. Dann installierte Maria die App.
„Ein Unterschied von 475,50 Euro“, sagt sie. „Das ist nicht fair.“
„Kann schon sein“, meint Frauke. „Aber ich kann doch auch nichts dafür.“
„Mehr fällt dir nicht ein?“
„Soll ich zum Chef gehen und ihn bitten, mein Gehalt zu kürzen?“
In Deutschland warnten Arbeitgebervertreter hysterisch vor dem neuen Mini-Gesetz. Es würde Unfrieden in die Betriebe tragen. Ein wirklich gutes Argument gegen die Transparenz ist das nicht, weil der Unfrieden ja eher durch die Bezahlung und nicht durch deren Veröffentlichung entsteht. Aber welche Argumente gibt es für die Transparenz?
Der amerikanische Rechtswissenschaftler und Philosoph Jeremy Waldron antwortet in einem Aufsatz mit einem Gedankenspiel. Wenn wir erfahren, dass ein Gericht eine Gruppe Krimineller für einen Raubüberfall zu einer Haftstrafe von zusammen 200 Jahren verurteilt hat – könnten wir beurteilen, ob diese Entscheidung gerecht ist? Wir könnten es nicht. Weil wir nicht wissen, wie sich die Strafe auf die Täter verteilt – ob der Anführer härter verurteilt wird als die Gehilfen oder die Gehilfen härter als ihr Anführer. Beim Wohlstand ist es ähnlich. Wir müssen genau wissen, wie er sich verteilt, um die Frage beantworten zu können: Ist diese Gesellschaft gerecht?
Wir müssen auf die Mikrodifferenzen achten, auf die feinen Abweichungen
Natürlich gibt es längst grobe Vorstellungen über die Topografie der Einkommen. Was verdienen Spitzenmanager? Hundertausende, manchmal Millionen. Was die Reinigungskräfte, die frühmorgens für die Chefs die Büros putzen? Ziemlich wenig, vielleicht ungerecht wenig. Zur Orientierung mögen grobe Statistiken reichen. Aber müssen wir wirklich wie in einem Telefonbuch Person für Person nachschlagen können, mit all der Schmach für die Betroffenen?
Wir müssen, argumentiert Waldron. Denn die Gerechtigkeit einer Gesellschaft bemisst sich nicht daran, wie viel der durchschnittliche Manager im Vergleich zur durchschnittlichen Reinigungskraft verdient. Sondern auch und vor allem daran, ob jeder einzelne Manager und jede einzelne Reinigungskraft einen fairen Anteil bekommt. Das Wohlergehen des Individuums ist in letzter Konsequenz immer das entscheidende Kriterium, um eine Gesellschaft zu beurteilen – deswegen können wir nicht einfach auf halben Wege stehen bleiben.
Wir müssen auf die Mikrodifferenzen achten, auf die feinen Abweichungen, vielleicht auch deswegen, weil sie unseren Sinn für Unrecht und Privilegien besser schärfen können als die fernen Extrembeispiele.
Maria weiß, was ihr Chef bekommt. Die App sagt aktuell: 8.320,50 Euro. Es ist leicht, die Summe für hoch, vielleicht für überzogen zu halten. Auf eine abstrakte Art und Weise.
Aber erst der Abstand zu ihrer Kollegin hat sie spüren lassen, wie viel Unfairness in den Ziffern stecken kann. Maria versucht, das Thema bei ihrem Vorgesetzten anzusprechen. Ohne Erfolg. Die Stimmung bleibt frostig, bis Maria schließlich einen neuen Job findet und kündigt. Die App sagt nun: 3.002,00 Euro. Immerhin.
Es gibt Länder, die schon heute gar nicht so weit weg sind von unserer Utopie totaler Transparenz. In Norwegen beispielsweise wurden Steuerlisten jahrzehntelang auf den Ämtern ausgelegt, jahrzehntelang ohne größere Beachtung, bis der Staat 2001 schließlich dazu überging, die Zahlen ins Netz zu stellen. Mit einem Mal war das Einkommen fast jeder Norwegerin und fast jedes Norwegers nur noch einen Klick entfernt. Zeitungen bereiteten die Daten auf ihren Internetseiten auf und meldeten bald Serverprobleme wegen der vielen Zugriffe. Die Menschen, das zeigen Auswertungen einer Suchmaschine, googelten häufiger nach den Steuertabellen als nach der Wettervorhersage.
Es kann sein, dass die Ungleichheit mit Transparenz abnimmt – es muss aber nicht sein
Zwei Ökonominnen haben in einer Studie ermittelt, dass der „Informationsschock“ auch ganz praktisch etwas an den Einkommen im Land verändert hat: Viele, die plötzlich ihres schlechten Verdienstes gewahr wurden, suchten sich eine neue Stelle. In der untersten Lohngruppe stiegen die Gehälter dadurch überdurchschnittlich stark an – um 4,8 Prozent. Dahinter mögen oft Wut oder Scham gestanden haben. Die Schlechtverdiener waren Umfragen zufolge nämlich auch diejenigen, bei denen die Transparenz besonders unbeliebt war. Der Weg zur Gerechtigkeit ist offenbar gepflastert mit schlechter Laune.
Der Philosoph Peter Dietsch von der Universität Montreal argumentiert, die Offenheit der Bezahlung verhindere Willkür und Günstlingswirtschaft. Unterschiede darf es dann nur noch geben, wenn man sie begründen kann. Das leuchtet ein. Aber was, wenn die Begründungen unangenehm werden?
Wenn sich nicht die Gehälter unseren Vorstellungen von Gerechtigkeit anpassen – sondern umgekehrt?
Die App sagt: 642,50 Euro. Es ist nicht so, dass Lukas sich nicht bemüht hätte. Aber das niedrige Gehalt verfolgt ihn, seit alle Welt es sehen kann. Firmen, bei denen er sich bewarb, boten ihm kaum mehr Geld. Die Zahl ist wie eine schlechte Note im Zeugnis: ein Hinweis darauf, dass bei ihm nicht mit viel zu rechnen sei.
Bevor die App kam, amtlich zertifiziert, hatte die Regierung noch in großen Tönen erklärt: Bald könne es keine ungerechten Unterschiede mehr geben, nur noch gerechte. Einige merkten an, dass die Schlechtergestellten dann schnell doppelt gestraft sind: Sie bekommen weniger und müssen nun auch noch mit der Gewissheit leben, es nicht anders verdient zu haben. Kurz flackerte daher die radikale Forderung nach Einheitsstundenlöhnen für alle Berufe auf: 60 Minuten Arbeit sollten bei einem Manager nicht weniger wert sein als bei einer Reinigungskraft; nur gleiche Löhne, hörte man, könnten verhindern, dass sich niemand schämen müsse, wenn das Einkommen öffentlich würde. Aber Politiker hielten das für eine abwegige Utopie, mit der man sich nicht weiter beschäftigen müsse.
Peter kennt Lukas seit dem ersten Semester; wenn sie sich treffen, ist klar, wer das Bier bezahlt: er, der Besserverdiener. Aber sie treffen sich seltener, seit sich ihre Gehälter so erkennbar auseinanderentwickeln, verfolgbar bis in die Nachkommastellen hinein. Irgendwann ertappte Peter sich bei dem Gedanken, sein Kumpel könne sich vielleicht wirklich nicht genug anstrengen.
Am Anfang war Lukas noch wütend darüber, dass sein Gehalt immer hinter dem seiner Freunde zurückblieb, obwohl es doch jetzt, wo alles offen war, ein Leichtes sein sollte, sich nicht unter Wert verkaufen zu müssen. Inzwischen hat er sich damit arrangiert.
Würde die Utopie so ausgehen? Es kann durchaus sein, dass die Ungleichheit abnimmt, wenn wir unsere Einkommen nicht mehr voreinander verstecken können. Kann auch sein, dass sich die Gesellschaft gleichzeitig noch krasser entlang des Geldes sortieren wird. Kann sein, dass wir endlich aufhören würden, die Zahl auf der Gehaltsabrechnung als Ausdruck unserer Leistung zu verklären. Kann aber auch sein, dass wir noch eifriger nach Indizien dafür suchen würden.
Vielleicht ist Transparenz ein sinnvoller Schritt, vielleicht brauchen wir tatsächlich weit mehr als die Mini-einblicke, die jetzt kommen. Aber noch dringender müssen wir dabei eine andere Frage klären: Was halten wir für gerecht?