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Sie pflegen sich kaputt

Foto: Fatima Talalini

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Zwei Schläuche führen von Herrn Albers Körper zu zwei Plastikbeuteln. In einem sammelt sich Urin, im anderen Wundflüssigkeit. „Warum liege ich denn im Bett?“, fragt Herr Albers (Name geändert). „Sie sind im Krankenhaus, Herr Albers. Sie hatten ja eine Operation“, sagt Lina. „Achso, jaja. Habe ich vergessen.“ „Ist nicht schlimm“, sagt Lina und füllt die Waschschüssel mit Wasser. Sie versucht, immer Ruhe auszustrahlen. Gerade bei Patienten mit Demenz ist das wichtig. Freundlich, aber bestimmt informiert sie den alten Mann mit dem weißen Haarkranz über das, was sie macht und was sie als nächstes vorhat: „Ich beginne jetzt mit der Pflege. Ich schlage vor, dass wir untenrum im Bett machen und den Oberkörper am Waschbecken, okay?“

Lina Sparla, eine zierliche 24-Jährige mit dünnem, hellbraunem Haar und Sommersprossen auf dem Nasenrücken, ist seit Oktober 2015 Pflegeschülerin in Münster. Dabei kam dieser Beruf lange nicht für sie in Frage. „Meine Eltern sind beide in der Pflege und haben mir immer davon abgeraten“, sagt sie. „Meine Mama sagt immer, dass sie nicht weiß, wie sie es bis zur Rente schaffen soll, weil sie so viel Stress hat.“ Nach einem Praktikum im Krankenhaus war trotzdem klar: Diese Ausbildung wird es. „Der Beruf an sich ist ganz toll“, sagt Lina und lächelt. „Man ist ganz nah am Menschen und lernt viel über den Körper und über Medizin.“

Doch nachdem sie die Ausbildung angefangen hatte, merkte Lina, dass etwas ganz gewaltig falsch läuft. Nicht beim Beruf selbst, sondern  bei den Bedingungen, unter dem er gelernt und ausgeführt wird. Dass ihre Ausbildung eigentlich unzureichend ist und dabei sogar Menschenleben riskiert werden. Darum hat sie beschlossen, dass sich etwas ändern muss – und sie das selbst in die Hand nehmen muss, weil niemand anderes es für sie tut. Aus diesem Grund wird Lina heute früher Feierabend machen und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn treffen. 

„Durch den Personalmangel haben wir Schüler oft niemanden, den wir fragen können, und fühlen uns überfordert“

Lina wäscht Herrn Albers im Bett, wechselt seine Windel, die hier „Schutzhose“ heißt, und motiviert ihn, selbst aufzustehen und sich in den Rollstuhl zu setzen. Jeder kleine Schritt ist schwierig, wenn man alt ist und krank, ein Vorgang, der mehrere Minuten in Anspruch nimmt, während Lina Herrn Albers stützt. Anschließend leitet sie ihn an, sich zu waschen, und hilft bei Schwierigkeiten, wie den Waschlappen auf die Hand und das T-Shirt über den Kopf zu ziehen. Dieses Anleiten ist Pflege nach Lehrbuch: Herr Albers macht so viel er kann selbst. Und er kann viel selbst – mit ein bisschen Hilfe.

„Es ist toll, dass ich mir heute mehr Zeit lassen kann. Aber das ist kein repräsentativer Dienst“, sagt Lina. Sie wurde für den heutigen Tag auf eine andere Station versetzt, hier sind die Zimmer größer, die Betten neuer, die Einrichtung moderner – und der Pressesprecher des Krankenhauses steht auf dem Gang und wartet. 

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Lina mag an ihrem Job, dass sie dabei ganz nah am Menschen ist – aber die Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen sind nicht gut genug.

Foto: Fatima Talalini

Die Station, auf der Lina eigentlich Dienst hätte, liegt im Altbau und ist noch nicht renoviert. Die Zimmer dort sind kleiner. Dreibettzimmer werden im Notfall mit vier Betten belegt. Linas Alltag sieht darum eigentlich anders aus: Oft muss sie sich beeilen oder Situationen alleine meistern, die sie nicht kennt. „Alle sprechen über den Pflegenotstand“, sagt Lina. „Aber in der Diskussion wird die Situation der Auszubildenden leider nicht berücksichtigt, obwohl sie entscheidend zum Pflegenotstand beiträgt: Durch den Personalmangel haben wir Schüler oft niemanden, den wir fragen können, und fühlen uns überfordert.“ 

Im Frühsommer hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn den Entwurf für ein „Pflegepersonal-Stärkungsgesetz“ vorgelegt, der erstmal so klingt, als würde es bald besser werden: Das Gesetz soll es den Krankenhäusern ermöglichen, ab 2019 mehr Personal einzustellen. Jede neue Pflegekraft wird voll refinanziert, das Krankenhaus muss sie also nicht selbst bezahlen. Doch Lina glaubt, dass das die Probleme der Auszubildenden nicht lösen wird, denn: „Wir brauchen Praxisanleiter, die nur dafür da sind, uns zu zeigen, wie etwas gemacht wird, und nicht selbst in die Pflege eingebunden sind. Doch wenn die Krankenhäuser es sich aussuchen können, werden sie lieber Pflegekräfte als Praxisanleiter einstellen.“

Daraus entstehe dann ein Teufelskreis: Ohne genügend Praxisanleiter bleibt die Ausbildung überfordernd, und je überfordernder die Ausbildung, desto weniger Auszubildende wollen später in der Pflege bleiben – und ohne neue Pflegende bringt auch die Finanzierung der neuen Stellen nichts. Linas Botschaft lautet darum: Es reicht nicht, mehr Geld für Personal bereitzustellen. Sondern die Krankenhäuser müssten gesetzlich verpflichtet werden, mehr Praxisanleiter für die Auszubildenden freizustellen.

Es gab nicht genug Zeit, das Essen anzureichen

Wie dramatisch die Situation ist, wurde Lina Anfang des Jahres klar. Damals war sie im Einsatz auf einer chirurgischen Station mit 33 Betten, hinzu kamen die, die als vierte Betten in die Dreibettzimmer verlegt wurden, weil Platz fehlte. An einem Tag war die Station so schlecht besetzt, dass Lina nur mit einer anderen Schülerin und einer Examinierten, also einer fertig ausgebildeten Pflegekraft, alleine war. Die Examinierte übernahm die eine Hälfte der Patienten, die beiden Schülerinnen die andere Hälfte – sie waren also zu zweit für mehr als 15 Patienten verantwortlich. Das bedeutete: Zeitdruck, Stress. Und Frustration und Verzweiflung, weil Lina wusste, dass sie den Bedürfnissen der Patienten nicht gerecht werden konnte.

An einem anderen Tag hatte sie die Aufgabe, eine Unterkursschülerin, die erst seit zwölf Wochen in der Ausbildung und zum ersten Mal im Einsatz im Krankenhaus war, anzuleiten. Weil Lina aber selbst viele Patienten versorgen musste, blieb für eine vernünftige Betreuung keine Luft. „Da hatte ich zum ersten Mal diesen Perspektivwechsel, wie es für die Examinierten ist: Sie wollen uns anleiten, können aber nicht.“

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Ein Job in der Pflege ist oft stressig und fordernd. Und die Schüler haben oft niemanden, an den sie sich wenden können, wenn sie unsicher sind.

Foto: Fatima Talalini

In ihrer Zeit auf der chirurgischen Station musste Lina Entscheidungen treffen, die sie schrecklich fand: „Es ist furchtbar, wenn man den Patienten sagen muss, dass man leider keine Zeit hat, sie zu waschen.“ Die Infusionen konnten nicht zu den vorgegebenen Zeiten angehängt werden, es gab nicht genug Zeit, das Essen anzureichen: „Man macht dann schnell, schnell, dass jeder ein bisschen was gegessen hat.“ Patienten, die eigentlich auch im Rollstuhl hätten sitzen können, wurden im Bett gelassen, weil keine Zeit da war, sie zu mobilisieren. Die Mobilisation ist aber ein wichtiger Bestandteil der Pflege: Ein Patient, der liegt, bekommt schneller eine Lungenentzündung, die Muskeln bauen sich ab und die Angst aufzustehen wächst. All das wusste Lina. Aber ändern konnte sie es nicht. Natürlich ist eine solche Situation ein Einfallstor für Fehler. Und selbst mal etwas essen oder auf die Toilette gehen, kommt für die Pflegenden schon gar nicht in Frage.

„Nach diesem Einsatz war ich so am Ende, dass ich dachte: Okay, irgendwas muss sich verändern“, sagt Lina. Sie fragte in ihrer Pflegeklasse nach. Wie sich herausstellte, hatten alle Auszubildenden ähnliche Erfahrungen gemacht. Zusammen mit  fünf Mitschülern schrieb Lina einen offenen Brief und verschickte ihn Anfang März an Abgeordnete in den Ausschüssen für Gesundheit im NRW-Land- und im Bundestag und an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn.

Darin forderten sie unter anderem, dass Krankenhäuser verpflichtet werden, Praxisanleiter einzustellen, die Schüler zehn Prozent der Arbeitsstunden der Ausbildung zusammen mit ihnen arbeiten und Pflegende in die Erarbeitung von Pflegegesetzen eingebunden werden. Und sie mahnten an, dass es ethisch und moralisch unhaltbar sei, dass die Auszubildenden am Patienten „üben“ müssen. Stattdessen brauche es sogenannte „Skill-Labs“, in denen Schüler zum Beispiel praktische Tätigkeiten wie das Legen eines Blasenkatheters an Pflegepuppen üben können. Die Reaktionen auf den Brief waren ermutigend: Die Münsteraner Pflegeschüler haben mittlerweile Gespräche mit fast allen Fraktionen geführt. Und schließlich meldet sich sogar das Bundesgesundheitsministerium. 

Fast die ganze Klasse ist gekommen, ebenso die Lehrer. Sie wollen hören, was Jens Spahn zu sagen hat

Am Nachmittag überlegen Lina, ihre Mitschülerinnen Karen und Barbara und ihr Mitschüler Johannes in einem Klassenzimmer im Erdgeschoss der Pflegeschule, wer wo sitzen soll. Die vier werden das Gespräch mit Bundesgesundheitsminister Spahn stellvertretend für die Klasse führen. „Setz dich mal da hin, du bist jetzt Spahn“, sagt Karen einer Mitschülerin und schiebt die Tische hin und her. Fast die ganze Klasse ist gekommen, ebenso die Lehrer. Sie wollen hören, was Jens Spahn zu sagen hat, und sie wollen sehen, ob er zuhört. Lina ist aufgeregt, aber fühlt sich gut vorbereitet und hofft, dass der Minister ihr Anliegen ernst nimmt. Wenn er nur einige ihren Forderungen mitnimmt, wäre schon viel erreicht. 

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Lina im Gespräch mit Bundesgesundheitsminister Jens Spahn.

Als Jens Spahn eintrifft, klopft er westfälisch zur Begrüßung auf einen der Schultische. Sein Mitarbeiter holt das Smartphone raus und macht fleißig Fotos. „Hierhin?“, fragt Spahn und deutet auf seinen Stuhl. „Fast wie beim Verhör.“ Er lacht. Als erstes will Lina ihm verdeutlichen, dass die Ausbildung nicht attraktiv ist: Sie bittet alle Mitschüler aufzustehen. Dann sollen sich alle setzen, die nach der Ausbildung gar nicht erst in der Pflege anfangen. Dann die, die sich nicht vorstellen können, länger als zwei Jahre in der Pflege zu bleiben. Am Ende stehen nur noch die, die dauerhaft in der Pflege bleiben wollen. Es sind drei von 22. 

Spahns erste Frage lautet: „In welchem Krankenhaus arbeitet ihr denn?“ Lina grätscht direkt rein: „Darum soll es heute gar nicht gehen.“ „Ja, aber das ist doch wichtig“, sagt Spahn, „vielleicht solltet ihr mal mit der Geschäftsleitung reden.“ Lina holt tief Luft: Natürlich haben sie mit der Geschäftsleitung gesprochen, mit der Pflegedienstleitung, mit dem Träger des Krankenhauses, mit den Praxisanleitern. Von Bekannten aus anderen Krankenhäusern weiß sie, dass das Problem überall das gleiche ist: Die Krankenhäuser wollen Personal einstellen, doch die Pflegeschüler haben nach der Ausbildung die Schnauze voll. Sie wurden überfordert, ausgebeutet und haben Patienten gefährdet, einfach dadurch, dass keiner da war, der ihnen hätte zeigen können, wie man es besser macht.

Deswegen fordern Lina und ihre Mitschüler klare Regeln dafür, wie viele Praxisanleiter für die Auszubildenden da sind. „Man kann doch nicht alles regulieren“, sagt Spahn. „Ich zum Beispiel habe eine Ausbildung zum Bankkaufmann gemacht. In der Bank wird auch nicht alles vom Staat kontrolliert.“ „Ein Bankkaufmann gefährdet mit einem Fehler ja auch keine Menschenleben“, flüstert eine Pflegeschülerin ihrer Nachbarin zu. Karen sagt: „Ohne fehlende Anleitung üben wir gezwungenermaßen am Patienten. Ich möchte wirklich nicht der Patient sein, an dem ich zum ersten Mal einen Katheter lege.“ 

Lina und ihre Mitschüler schauen sich verwundert an. Das hat Spahn aus dem Gespräch mitgenommen? Dass alles gut läuft?

Lina, Karen, Barbara und Johannes geben alles. Argumentieren, erklären, geben Beispiele. Spahn möchte, dass die Pflegeschüler sich selbst stark machen und sich gewerkschaftlich organisieren. „Wenn ihr die 250 Praxisstunden, die vorgeschrieben sind, nicht bekommt, dann sagt das“, fordert Spahn. „Aber dann würden wir unser Examen gefährden“, erklärt Lina. Denn ohne diese Stunden gibt es keine Zulassung zur Prüfung. Verlangt der Gesundheitsminister gerade, dass sie für eine Veränderung in der Pflege ihre berufliche Zukunft aufs Spiel setzen?

„Wir würden gerne wissen, was Sie aus diesem Gespräch mitnehmen“, fragt Karen nach einer Stunde mit Blick auf die Uhr. Ihnen wurde gesagt, dass der Minister 60 Minuten Zeit für sie hat. „Zunächst mal fühle ich mich bestärkt in dem, was wir tun“, sagt Spahn und erwähnt noch einmal, dass nun bald alle Stellen refinanziert werden. Lina und ihre Mitschüler schauen sich verwundert an. Das hat er aus dem Gespräch mitgenommen? Dass alles gut läuft? Er erzählt von der „Arbeitsgruppe Ausbildung“ im Ministerium. „Sind da denn auch Auszubildende beteiligt?“, fragt Lina. Spahn stockt, überlegt. Schließlich nickt er seinem Mitarbeiter zu, der sich etwas auf seinem Smartphone notiert. „Wir werden das beachten“, sagt Spahn. 

Nach dem Gespräch atmet Lina tief durch, streicht sich die Haare aus dem Gesicht und lächelt. Geschafft. Mitschüler und Lehrer scharen sich um sie, sprechen aufgeregt durcheinander. Lina muss das jetzt erstmal sacken lassen. Hat Spahn nicht verstanden, dass man die Praxisanleitung gesetzlich regeln sollte, oder wollte er das nicht verstehen? Will er wirklich, dass Pflegeschüler für ihr Engagement ihr Examen aufs Spiel setzen? 

Lina kann in dieser Hinsicht nichts mehr passieren: Kommende Woche hat sie ihre Examensprüfung. Wenn sie besteht, wird sie keine Schülerin mehr sein, sondern eine examinierte Pflegekraft. Doch für den Rest ihres Berufslebens in diesem Job zu arbeiten, für den sie sich so motiviert entschieden hat – das kann sie sich unter den aktuellen Bedingungen nicht vorstellen.

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