Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Geliefert

Foto: Kai Pfaffenbach / Reuters

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Seit Kira* bei Lieferando arbeitet, rät sie allen davon ab, bei dem Bringdienst Essen zu bestellen. Vor allem im Winter. Die 21-jährige Studentin ist seit November als Fahrradkurierin in Berlin unterwegs, tagsüber und spät abends, auch bei Minusgraden und Schnee. In den vergangenen Wochen war es auf den Straßen und Radwegen oft glatt, auf manchen Strecken kam man mit dem Fahrrad überhaupt nicht mehr durch. Oft sei sie am Ende einer Schicht vollkommen durchgefroren gewesen und habe tagsüber Kopfschmerzen gehabt, sagt Kira – eine Folge der Kälte, von der auch Kolleg*innen berichten würden.

Am Morgen des 9. Februar wachte Berlin unter einer Schneedecke auf. Es hatte schon in den Tagen zuvor manchmal geschneit, doch dieses Mal wollte es gar nicht mehr aufhören. An diesem Dienstag um kurz nach sechs Uhr bekam Kira eine Rundmail von ihrem Arbeitgeber, die für sie „an Satire grenzte“, wie sie sagt. Lieferando warnte vor „Schneefall, Eis, Kälte und Wind in Deutschland“ und gab einige Tipps: „Trage immer einen Helm, fahre langsam, steige ab und schiebe, wenn Fahren zu gefährlich ist.“ Kira sagt dazu: „Unsere Gesundheit scheint nebensächlich, wenn nicht völlig egal.“ In der Mail hieß es auch, Fahrer*innen sollten „warme, atmungsaktive Kleidung übereinander“ tragen. Die bereitgestellte Arbeitskleidung sei dazu aber nicht ausreichend, sagt Kira: „Die Handschuhe und Winterjacken sind bei Minusgraden nicht warm genug, also muss ich meine privaten Sachen anziehen, die entsprechend abnutzen.“ Um wetterfeste Schuhe müssten Fahrer*innen sich grundsätzlich selbst kümmern.

Zwischendurch im Warmen eine Pause zu machen, sei während der Schichten kompliziert, sagt Kira. „Wegen der Coronamaßnamen kann man nirgendwo reingehen und die meisten Gastronomen, bei denen ich das Essen abhole, lassen mich vor der Tür warten.“ Oft sei es nicht einmal möglich, in den Restaurants die Toiletten zu benutzen. Nachfrage bei Lieferando: „Die meisten Restaurants, für die wir ausliefern, haben explizit bestätigt, dass unsere Fahrer ihre Waschräume nutzen können“, sagt Pressesprecher Oliver Klug. Gemäß Arbeitsvertrag stünden allen Fahrerinnen und Fahrern alle sechs Stunden 30 Minuten Pause zu. Im Schichtplan seien diese fest eingeplant, darüber hinaus könnten Mitarbeitende bei Bedarf flexibel Pausen einlegen. Die Realität sehe jedoch häufig anders aus, sagt Kira. Spontane Pausen durchzusetzen, zum Beispiel, um eine Toilette zu suchen, ist ihr zufolge schwierig.

„Da bleibt das Gefühl, dass der Arbeitgeber Pausen nicht unterstützt, sondern nur duldet“

Sie muss dazu über eine spezielle App bei ihrem „Dispatcher-Team“ anfragen – das sind Lieferando-Angestellte, die vom Büro aus die Schichten überblicken. „Einmal bekam ich als Antwort: ‚Reichen dir zehn bis zwölf Minuten?‘“, erzählt Kira. „Ich musste darauf bestehen und erklären, dass ich so schnell keine Toilette finde. Da bleibt das Gefühl, dass der Arbeitgeber Pausen nicht unterstützt, sondern nur duldet.“ Als Minijobberin ist Kira meistens nach ein paar Stunden wieder zu Hause. Kolleg*innen aber verbrächten „teilweise bis zu zehn Stunden am Stück draußen“. Darunter seien viele Studierende aus dem Ausland, die wenig Deutsch sprächen und nicht unbedingt wüssten, wie sie sich gegen schlechte Arbeitsbedingungen wehren könnten.

Als der Schnee in Berlin am 9. Februar so hoch lag, dass Fahrradfahren nicht mehr möglich war, machte Lieferando dort vorübergehend zu. Auch in anderen Städten bekamen Kurier*innen an Tagen mit extremen Witterungsbedingungen E-Mails mit der Information, dass sie nicht arbeiten müssen. „Wenn eine Stadt den Betrieb pausiert, ist klar, dass trotzdem alle bezahlt werden“, sagt Hannes* (32), der als Kurier und Betriebsrat bei Lieferando arbeitet. „Allerdings ist es jeden Tag aufs Neue schwierig einzuschätzen, ob das Wetter nun zumutbar ist oder nicht. Nicht in jeder Stadt gibt es eine Lieferando-Zentrale, der Arbeitgeber muss also manchmal aus der Ferne urteilen.“ Da gingen die Meinungen zwischen Unternehmen und Fahrer*innen schon mal auseinander: „Bei uns wurde zwischendurch wieder aufgemacht, aber viele Fahrer haben ihre Schichten aus Angst vor Unfällen abgesagt.“ Obwohl der Betrieb kurz darauf auch offiziell wieder geschlossen wurde, sei momentan noch nicht geklärt, ob Lieferando diese abgesagten Schichten bezahle.

Bei der Beurteilung des Wetters gäbe es klare Kriterien mit „einem Ermessensspielraum“, sagt Lieferando-Sprecher Klug. Die Entscheidungshoheit liege bei den Kolleg*innen, die den Betrieb in der jeweiligen Stadt leiten. „Ein bisschen Kälte ist noch kein Problem, aber bei vereisten Straßen oder hohem Schnee pausieren wir.“ Das Unternehmen und die Gastronomie hätten ein Interesse daran, den Betrieb aufrechtzuerhalten, jedoch gehe die Sicherheit der Fahrerinnen und Fahrer vor. „Bei wetterbedingten Betriebspausen erhalten alle Mitarbeiter dennoch ihren Lohn für ausfallende Schichten.“ Das gelte auch für Fahrer*innen, die sich abmelden, obwohl der Betrieb noch nicht offiziell pausiert sei: „Das Wetter muss die Abmeldung natürlich rechtfertigen.“ Doch was gerechtfertigt ist – und damit, was bezahlt wird – entscheidet allein Lieferando.

Die Arbeitskleidung, die das Unternehmen kostenlos an Fahrer*innen ausgibt, ist Klug zufolge „praxiserprobt“ und werde weiter verbessert. Kira widerspricht in diesem Punkt: „Die Arbeitskleidung hält dem Wetter oft nicht stand. Die Winterjacke nässt bei Regen durch und die Handschuhe sind so dünn, dass mir bei Minusgraden fast die Finger abfrieren.“ Es gebe Kolleg*innen, die beim Arbeiten Ski-Kleidung trügen. „Ich habe sowas nicht und möchte es mir auch nicht extra für die Arbeit kaufen.“

„Schon damals wurde Kritik an den Arbeitsbedingungen laut"

Lieferdienste wie Lieferando gibt es in Deutschland seit ungefähr fünf Jahren. Noch 2016 konkurrierten das Berliner Start-up Foodora und der britische Dienst Deliveroo, schon damals wurde Kritik an den Arbeitsbedingungen laut. Was hat sich seitdem getan?

Betriebsrat Hannes arbeitete bei Foodora, bevor der Dienst von Lieferando übernommen wurde. Genau wie Lieferheld und pizza.de gehörte Foodora zum Lieferando-Konkurrenzdienst Deliveryhero. 2018 kaufte Lieferando, eine Marke des milliardenschweren niederländischen Lieferkonzerns Just Eat Takeaway, die Dienste von Deliveryhero auf. Fahrerinnen und Fahrer von Foodora seien zwar übernommen worden, erzählt Hannes, allerdings habe es anfangs Chaos bei Verträgen und Ausrüstung gegeben. Eine deutliche Verbesserung sei jedoch, dass Lieferando alle seine Fahrer*innen von Anfang an festangestellt habe. Foodora und andere hatten Fahrer*innen auf selbstständiger Basis beschäftigt, ein Konzept, das den Mitarbeitenden keinerlei Sicherheit bietet und sie häufig zu Scheinselbständigen machte.

Diese so genannte Gig-Economy gebe es bei Lieferando nicht, betont Pressesprecher Klug. Zudem gebe es unterschiedliche Arbeitsmodelle. Manche Fahrer*innen würden eigene Fahrräder benutzen, in vielen großen Städten stelle Lieferando aber auch E-Bikes zur Verfügung, die zu Beginn der Schicht bei der Zentrale abgeholt werden. Manche Fahrer*innen wären auch mit dem Auto unterwegs. Trotzdem gebe Lieferando anfangs grundsätzlich nur befristete Verträge aus, berichten Hannes und Lukas Frey (23), der in Stuttgart als Betriebsrat arbeitet. Damit bestehe die Gefahr, dass Mitarbeiter*innen, die sich über Arbeitsbedingungen beschweren, nicht übernommen werden. Und das Lieferando Probleme mit kritischen Mitarbeiter*innen zu haben scheint, legt auch ein Fall aus dem vergangenen Jahr nahe. Im April 2020 hatte das Lieferando-Management  Medienberichten zufolge eine Betriebsratwahl in Köln aktiv behindert.

Betriebsrat Lukas berichtet, dass man mit dem Arbeitgeber zu vielen Themen in Gesprächen sei. „Allerdings läuft die Kommunikation unglaublich zäh, und es gibt sehr viele Baustellen.“ Zum Beispiel wenn es um einen Auslagenersatz für Reparaturen der eigenen Fahrräder gehe. Momentan bekommen Kuriere mit eigenem Fahrrad nur eine Verschleißpauschale von zehn Cent pro Kilometer, allerdings nicht als Überweisung aufs Konto, sondern in Form eines Amazon-Gutscheins. Außerdem ist der Betrag bei 44 Euro im Monat gedeckelt. Die zuständige Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) hatte dies schon im April 2020 kritisiert, da manche Kuriere mehr Kilometer fahren, als die Pauschale auffangen kann. Außerdem müssten Mitarbeitende über das Geld frei verfügen können, ein Gutschein sei nicht angemessen.

Lieferando verzeichnete im Pandemiejahr Rekordzahlen: Im ersten Halbjahr 2020 war der Umsatz nach eigenen Angaben mit 161 Millionen Euro doppelt so hoch wie im Vergleichszeitraum 2019. Die höhere Nachfrage schafft auch Jobs: Im Dezember 2020 arbeiteten rund 5 000 Kurier*innen bei Lieferando, außerdem stelle man „gerade eine vierstellige Zahl“ weiterer Personen ein, sagte die Lieferando-Deutschlandchefin Katharina Hauke dem Tagesspiegel. „Im deutschlandweiten Durchschnitt verdienen unsere Fahrerinnen und Fahrer mehr als zwölf Euro pro Stunde inklusive variabler Komponenten“, sagt Pressesprecher Klug. Betriebsrat Lukas konkretisiert: „Wir in Stuttgart bekommen zehn Euro Basislohn.“ Dazu kämen Trinkgeld und ein Bonussystem für besonders viele überbrachte Gerichte.

Eine kontaklose Übergabe funktioniert in den meisten Fällen nicht

Seit Beginn der Coronazeit ist auch der Infektionsschutz ein großes Thema für viele Fahrer*innen – Lieferando schaffte es damals nur sehr schleppend, alle mit Alltagsmasken und Desinfektionsmittel auszustatten. FFP2-Masken verteilte Lieferando erst mit Einführung der gesetzlichen Pflicht im Januar 2021. Betriebsrat Lukas Frey bestätigt zwar, dass diese in Stuttgart zuverlässig per Post gekommen seien. Kira in Berlin aber sagt, ihr wurde die Maske zunächst verweigert. „Als ich am Anfang meiner Schicht die Maske in der Zentrale abholen wollte, hieß es: Nein, bitte zuerst die aktuelle Bestellung ausliefern.“ Sowohl Lukas als auch Kira berichten zudem, dass die „kontaktlose Übergabe“, die Lieferando zu Beginn der Pandemie eingeführt habe, in den meisten Fällen nicht funktioniere. Sie sieht eigentlich vor, dass Kund*innen ihre Türen erst öffnen, wenn Kurier*innen das Essen abgestellt haben und zurückgetreten sind. Allerdings seien die Kund*innen darüber nicht richtig informiert. „Die meisten laufen mir ohne Maske entgegen und nehmen mir das Essen aus der Hand, so schnell kann ich oft gar nicht reagieren“, sagt Lukas.

Wie Kira rufen auch andere Lieferando-Fahrer*innen Kund*innen dazu auf, bei Schnee und Kälte überhaupt nicht mehr zu bestellen. Eine kleine Gruppe Protestierender versammelte sich vor zwei Wochen in Berlin, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. „Wenn weniger Leute bestellen, führt das ja nicht dazu, dass gleich alle ihre Jobs verlieren“, meint Kira. „Aber die Fahrer*innen hätten weniger Stress.“

Was den meisten Menschen allerdings nicht klar sein dürfte: 90 Prozent der Bestellungen liefern Lieferando zufolge Gastronom*innen selbst aus. Sie beschäftigen eigene Kurier*innen – ob fest angestellt oder auf selbstständiger Basis, regelt dabei jedes Restaurant selbst – und können auch Rucksäcke, Jacken und sogar E-Bikes bei Lieferando einkaufen. Während die orange gekleideten Radfahrer*innen auf der Straße also genau gleich aussehen, ist nur  jede zehnte Person, die ein bei Lieferando bestelltes Gericht ausliefert, auch tatsächlich bei Lieferando beschäftigt. Wer wirklich zu welchen Bedingungen arbeitet, weiß man also nicht. Betriebsrat Hannes meint, bei kleinen Betrieben laufe es unter Umständen sogar noch schlechter: „Restaurants, die selbst liefern, stellen den Betrieb im Winter oft überhaupt nicht ein.“

  • teilen
  • schließen