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Ebersberg: Der 20-Jährige Liam Klages leitet ein Impfzentrum
Und dann fängt der Mann, der auch Liam Klages’ Urgroßvater sein könnte, plötzlich an zu weinen. Eben noch hatte er sich mit Liam unterhalten. Der Mann war in Plauderlaune, als er da auf seinem Stuhl saß im Impfzentrum von Ebersberg. Neben ihm stand ein Arzt mit der Spritze in der Hand und vor ihm der 20-jährige Liam, der die Impfung protokollierte. Während der Arzt also die Impfe vorbereitete, die Spritze auspackte und das Desinfektionsmittel zur Hand nahm, begann der Mann Liam von seiner früheren Arbeit zu erzählen, von seinen Enkeln, von seinen Freunden, die er wegen der Pandemie so lang nicht sehen konnte. Liam fragte nach, der Mann redete weiter, und irgendwann heulte der ältere Mann einfach los.
Liam sitzt in seinem Büro im Impfzentrum von Ebersberg, 30 Kilometer vor München, als er von dieser Begebenheit erzählt. Drei, vier Wochen ist das jetzt her. „Ich hatte den Eindruck, dass er gerührt davon war, endlich geimpft zu werden“, sagt Liam und klingt dabei so sachlich-professionell wie ein Mann, der diesen Job schon in jedem seiner zwanzig Lebensjahre gemacht hat, und nicht erst seit vier Wochen. Wie einer, der schon alles gesehen, gehört, erlebt hat. Liam ist es auch, der sich vor seine Mitarbeiter*innen stellt, wenn sich mal wieder jemand die Impfung ermogeln möchte. Er ist es, der Nein sagt, wenn einer mit Vorerkrankung zum Impfzentrum kommt, obwohl er noch nicht geimpft werden darf. Das kommt zum Glück nur selten vor. Aber wenn es passiert, ist er zur Stelle. Liam Klages, geboren im Jahr 2000, ist der Chef vom Impfzentrum in Ebersberg.
Einige Kolleg*innen sind doppelt, manche dreimal so alt wie ihr Chef
Während er in seinem Büro im ersten Stock des früheren Sparkassengebäudes sitzt, läuft im Erdgeschoss das Impf-Uhrwerk weiter, das Liam mit seinen Kollegen entwickelt und aufgebaut hat. Rentner*innen kommen. Rentner*innen gehen. Dreiseitige Aufklärungsmerkblätter werden unterschrieben. Nadeln werden in Armen versenkt. Zwar sind an diesem Freitagmittag nur maximal drei von zwölf Stühlen im Wartesaal besetzt, denn auch hier ist der Impfstoff knapp. Aber schon jetzt gehören 90 Mitarbeiter*innen zu Liams Team, um vorbereitet zu sein, wenn das Tempo anzieht. Sicherheitskräfte, Verwaltungsleute, medizinische Hilfskräfte. Dazu kommen etwa 80 Ärztinnen und Ärzte, von denen abwechselnd immer vier im Einsatz sind. Einige sind doppelt, manche dreimal so alt wie ihr Chef.
Kurzfristig sollen sie alle dafür sorgen, dass niemand länger als eine halbe Stunde hier verbringen muss und alles sauber und sicher abläuft. Langfristig ist ihre Aufgabe, dass Ebersberg Tag für Tag ein bisschen mehr immun ist gegen das Virus.
Einer der drei ging mit Liam Klages auf dieselbe Schule.
Denkt man an die Menschen, die Impfzentren leiten, fallen einem zunächst eher grauhaarige Routinees ein, die vielleicht nicht die Spanische Grippe miterlebt haben müssen, aber doch wenigstens die eine oder andere handfeste Krise.
Liam hat braune Haare, erst seit gut zwei Jahren Abitur – und keinerlei Zweifel daran, dass er für diesen Posten der Richtige ist. „Ich könnte mir gerade keinen geileren Job vorstellen“, sagt er. „Ich versuche jeden davon zu überzeugen, dass das Alter egal ist.“ Und wenn man seinen ein wenig aus der Zeit gefallenen Handy-Klingelton hört, den Jingle der längst eingestellten Fernsehsendung TV Total (daaa-d-d-d-d-daaaa), dann ist genau das vielleicht schon Teil der Überzeugungsarbeit.
Ein 20-Jähriger, der ein Impfzentrum leitet. Ohne abgeschlossenes Studium, ohne abgeschlossene Ausbildung. Kann das funktionieren?
Ein 20-Jähriger, der ein Impfzentrum leitet. Ohne abgeschlossenes Studium, ohne abgeschlossene Ausbildung. Kann das funktionieren? Fragt man beim Landratsamt, heißt es: „Herr Klages ist ein engagierter junger Mann mit innovativen Ideen, sie überzeugen uns immer wieder.“ Fragt man eine junge Frau, die am Empfang arbeitet, sagt diese: „Wenn jemand zehn Minuten nach Dienstbeginn da ist, macht er auch schon mal eine Ansage. Er hat den Laden im Griff.“ Und Liam selbst? Als die Länge des Gesprächs in seinem Büro gerade eine Stunde überschritten hat, schaut Liam auf sein Handy. Er hat noch einige Termine heute, also steht er auf, setzt seine FFP2-Maske auf, verabschiedet sich freundlich, und läuft zurück, hinunter ins Erdgeschoss. Die aktuellen Umstände haben auch einen Vorteil für ihn: Unter der Maske, die einen Teil seines Gesicht verbirgt, sieht er gleich viel älter aus.
Drei Monate ist es nun her, dass aus Liams normalem Studentenleben ein Leben mit Personalverantwortung für etwa 90 Menschen wurde. Bis dahin war er vor allem ein BWL-Student im fünften Semester an der TU München. Wobei sein Blick schon vor seiner neuen Aufgabe eher fern der Uni lag. „Ich bin nicht der mega motivierte Student“, sagt er. „Ich gehe selten in die Uni und bin froh, dass die meisten Seminare online angeboten werden.“ Stattdessen lebe er lieber für das, was mit der Praxis zu tun hat. Und sagt Sätze, die Praktiker eben so sagen: „Für Termine nehme ich mir so wenig Zeit wie möglich und so viel Zeit wie nötig.“
Schaut man sich Liams Lebenslauf an, ist sein Werdegang gar nicht so überraschend: Mit 15 fing er an, für den Rettungsdienst zu arbeiten und wurde zum Leiter des Sanitätsdienstes seiner Schule. Mit 18 machte er den Lkw-Führerschein und die Ausbildung zum Rettungssanitäter, um bei Feuerwehr und Rettungsdienst Fuß fassen zu können. Mit 19 stieg er mit zwei älteren Freunden in eine Firma ein, die andere Firmen bei den Themen Datenschutz und Arbeitssicherheit berät. Immer wieder konnte er dabei auf seine Erfahrungen aus dem Rettungsdienst zurückgreifen. Hat man all das im Hinterkopf, erscheint es zumindest ein bisschen weniger abwegig, dass Liam mit 20 Jahren zum Leiter eines Impfstoff-Zentrums werden würde. Aber bis es soweit war, musste er sich mal ins Spiel bringen.
Im November, deutete sich an, dass die ersten Impfstoffe von Moderna und Biontech/Pfizer bald verfügbar sein würden. Die Kommunen machten sich also erste Gedanken darüber, wie sie die Impfungen vor Ort durchführen könnten. Sie schrieben Aufträge öffentlich aus. Liam und seine zwei Kollegen, ebenfalls ausgebildet im Rettungsdienst, fühlten sich angesprochen. Sicherheit, Krankenversorgung und Datenschutz – das, was sie sowieso schon seit Jahren gemacht hatten, wäre in einem Impfzentrum kombiniert. Also setzen sie sich zusammen. Anfang Dezember stellten sie eine Kalkulation auf, wie ihr Impfzentrum aussehen könnte, das Liam leiten würde, wie viel Geld und viele Leute sie benötigen würden, und schickten all das ans Landratsamt. Einen Tag später kam der Rückruf aus dem Landratsamt: „Herr Klages, wir werden uns jetzt öfter hören.“
Am Eingang zum Impfzentrum kontrolliert eine Sicherheitskraft, ob alle Angaben stimmen.
In den folgenden drei Wochen setzte Liam alles daran, die Versprechungen, die er in seiner Kalkulation gemacht hatte, einzulösen. Er kontaktierte Messebauer, Hersteller von Medizinprodukten, suchte nach Fahrzeugen für die mobilen Impfteams, die auch zu seiner Zuständigkeit gehören würden, kaufte Computer für die Rezeption und tausende Spritzen, prüfte die Kühlsysteme für die kostbaren Impfdosen. Er suchte Mitarbeiter*innen, die so flexibel und verlässlich sind, dass sie schon in wenigen Tagen loslegen könnten, stellte Leute von der Lufthansa ein, die gerade nichts zu tun hatten, und ehemalige Mitschüler*innen , Freund*innen vom Rettungsdienst, Leute aus den Nachbarstädten. Ein 18-Jähriger, mit dem Liam auf der Schule war, sitzt zum Beispiel an diesem Freitag am Empfang.
Seine Arbeitstage dauerten nun zehn, zwölf Stunden, das Studium hatte er längst pausiert. Und selbst wenn die Kneipen und Clubs nun offen wären, würde ihn das wohl nicht kümmern. „Ich könnte mit diesem Job nicht dreimal in der Woche in einen Club gehen“, sagt er und lacht. Am 27. Dezember wurde die erste Ebersbergerin geimpft.
Das Personal ist da, der Platz ist da. Was fehlt, ist der Impfstoff
An diesem Freitag darf im Impfzentrum nun eine ältere Dame am Security-Mitarbeiter am Eingang vorbei, nachdem sie ihren Personalausweis vorgezeigt hat. Kurz darauf fällt ihr der Impfpass aus der Hand. Eine Mitarbeiterin hebt ihn die auf. „Jetzt dürfen Sie mir folgen“, sagt sie wenig später, als die Dame den vierseitigen Bogen mit Informationen zur Impfung in der Hand hält. „Fühlen Sie sich wohl heute?“, fragt die Mitarbeiterin. „BITTE?“, ist die Antwort der Dame, weshalb es die Mitarbeiterin noch einmal probiert. „Geht es Ihnen gut?“, Nicken. Kurz darauf nimmt die Dame Platz im Wartesaal, um schon wenige Minuten später aufgerufen zu werden. Fiebermessen. Hände desinfizieren. Dann verschwindet sie in einem der vier Behandlungszimmer. Hundert Mal am Tag passiert das, von 8 bis 18 Uhr.
Hundert Impfungen am Tag, das klingt so lange gut, bis man erfährt, dass auch 250 Impfungen täglich möglich wären. Das Personal ist da, von dem viele nur ein paar Stunden pro Woche hier arbeiten. Der Platz ist da. Was fehlt, ist der Impfstoff. Immer dienstags und freitags kommt die Lieferung am Impfzentrum an, aber es dauert nicht lange, bis am Telefon alle Termine vergeben sind. „Am letzten Dienstag hat es keine halbe Stunde gedauert, bis alles ausgebucht war“, sagt Liam. An jedem Dienstag und Freitag ab sechs Uhr morgens werden neue Termine vergeben. Eine Frau, die an diesem Tag geimpft wurde, erzählt, dass sie 20 Mal anrufen musste, um endlich einen Termin zu bekommen.
Bevor es losgeht mit der Impfung, wird Fieber gemessen und desinfiziert.
Wenn Liam von dieser Langsamkeit erzählt, ärgert er sich darüber. Aber das Tempo hat, wie er findet, auch einen Vorteil. „Wir konnten uns eingrooven“, sagt er. So habe man die Abläufe testen können. Eine frühe Erkenntnis sei zum Beispiel gewesen, dass viele der älteren Menschen Angst davor haben, zu spät zum Termin zu kommen. „Die Älteren kommen immer eine Stunde zu früh“, sagt Liam. „Aber ich kann die älteren Leute ja nicht in der Kälte stehen lassen.“
Also baute er, um mehr Platz zu schaffen, zusammen mit seinen Mitarbeiter*innen den Wartebereich aus. Außerdem, und das war eine Lehre aus der Begegnung mit dem weinenden älteren Herrn, sollen seine Mitarbeiter*innen sich bitte darum kümmern, mit den Leuten nach der Impfung zu sprechen. Viele hätten einfach Redebedarf. Liam findet, dass er seine Arbeit bisher ganz gut gemacht hat. Jetzt braucht er Unterstützung von denen, die schon ein bisschen länger im Geschäft sind als er. Von Biontech, AstraZeneca und Moderna. „Es könnte langsam mal richtig losgehen”, sagt er.