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6875 Euro brutto für die Intendantin

Grundvoraussetzung als Intendantin ist laut Julia die Liebe zum Theater.
Foto: China Hopson/Bearbeitung: SZ Jetzt

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Julia Wissert ist Intendantin. In strengen Wochen arbeitet sie mehr als 80 Stunden. Sie erzählt, wie sie die jüngste Frau Deutschlands in ihrer Position wurde, welche Rolle Resilienz und Chaos in ihrem Beruf spielen und warum dafür eine Portion Schamlosigkeit wichtig ist.

Wie mein Arbeitsalltag aussieht

„Morgens nehme ich mir meist zwei Stunden Zeit, um mich übers Weltgeschehen zu informieren. Ich blättere durch Magazine, tausche mich mit Kolleg:innen an anderen Theatern aus, verfolge Nachrichten und stöbere in neuen Buchveröffentlichungen. Ab zehn Uhr stehen im Theater Termine an: Vorsprechen von Schauspielenden oder Gespräche über Dramaturgie, Spielplanausrichtungen und Organisatorisches. Ich plane Termine, die im Laufe der Woche und des Monats anstehen, mit meiner Mitarbeiterin, und beantworte E-Mails.

An eigenen Inszenierungen arbeite ich etwa einen Arbeitstag pro Woche. Dafür recherchiere ich zu Texten, die ich auf die Bühne bringen will, tausche mich mit Bühnen- und Kostümbildner:innen aus und schicke Songs mit den Musiker:innen hin und her. Außerdem vernetze ich das Theater mit anderen Schauspielhäusern und Kooperationspartnern. Besonders gern schleiche ich mich bei den Proben zum Zuschauen hinein. Betriebswirtschaftliches, wie die Budgetverteilung, kann zwar in den Aufgabenbereich der Intendantin fallen, ich habe diese Aufgaben aber an eine Betriebsdirektorin abgegeben. Vorbei ist mein Arbeitstag oft erst um zehn oder elf Uhr abends nach der Vorstellung. Oft kommen dann noch Mitarbeitende auf mich zu, um etwas mit mir zu besprechen.“

Wie ich Intendantin geworden bin

„Meinen Bachelor habe ich in London in Theater und Medien absolviert. Danach war ich einige Jahre an den Theatern in Freiburg, Basel und Oldenburg als Regieassistentin tätig. Diese Position hat mir viel Praxis und tiefe Einblicke in die Produktion von Stücken ermöglicht, ohne wie die Regisseurin den Kopf für Kritik hinhalten zu müssen. Am Mozarteum in Salzburg habe ich dann Regie studiert und durfte dort schon viel selbstständig inszenieren. Ab 2015 habe ich als freie Regisseurin zum Beispiel am Maxim Gorki Theater in Berlin, am Nationaltheater Brno und Staatstheater Oldenburg inszeniert. Als die Intendanz in Dortmund ausgeschrieben wurde, habe ich mich beworben. Dafür musste ich ein Konzept für zwei Spielzeiten ausarbeiten. Wenn die Auswahljury die Bewerbung interessant findet, stellt man das Konzept in einem Bewerbungsgespräch detaillierter vor. Das war bei mir der Fall. Ich wurde 2019 berufen und habe im August 2020 in Dortmund angefangen. Mein Vertrag war auf fünf Jahre befristet und wurde dieses Jahr um weitere fünf Jahre verlängert.

Meine Position wurde in Deutschland sehr lange mit den gleichen Personen besetzt – überwiegend Männer über 50 mit hohem sozialen Status. Gerade beobachte ich, dass sich das ändert und auch jüngere Menschen mit ganz unterschiedlichen Biografien als Intendant:innen an die Theater kommen. Meine These ist: Es gibt nicht mehr den einen Weg. Theoretisch kannst du BWL studiert haben und dich über Regiearbeit und ein starkes Kulturinteresse für den Beruf qualifizieren.“

Welche Eigenschaften man als Intendantin braucht

„Grundvoraussetzung ist die Liebe zum Theater und der Glaube daran, dass diese uralte Institution in die Zukunft gehört. Nachdem kein Arbeitstag dem anderen gleicht, sollte man das Chaos schätzen und gut improvisieren können. Ein Team souverän zu leiten und Ideen, zum Beispiel für neue Inszenierungen, gut zu verkaufen, ist ein Lernprozess. Mitbringen sollte man dafür guten Humor und eine Portion Schamlosigkeit. Ich meine damit: Als Intendantin hat man die Chance, eine Bühne für neue Gesprächsthemen zu schaffen. Dafür braucht es Mut. Gerade weiblich gelesenen Personen möchte ich dabei ans Herz legen: Wenn ihr denkt, eine Idee oder Forderung sei zu dreist, dann ist sie oft genau richtig.“

Wie wichtig Netzwerken für meinen Job ist

„Ich wurde nicht kulturnah sozialisiert und habe meine Liebe zum Theater eher zufällig entdeckt. Mein Werdegang hat viel mit zufälligen Begegnungen zu tun. Eine Freundin meiner Mutter zum Beispiel war Teil eines Freiburger Performancekollektivs. Sie erzählte mir von einer freien Stelle für eine Regiehospitanz. Weil die Regieassistentin an meinem ersten Tag als Hospitantin absprang, war ich plötzlich die Regieassistentin der Intendantin Barbara Mundel. Ich habe seitdem gelernt, dass der Theaterbetrieb stark über Beziehungen funktioniert.

Man kann solche Zufälle aber auch selbst erzeugen. Das heißt, zu überlegen: Wer sind die Personen, die mich dabei unterstützen könnten, dahin zu kommen, wo ich hin möchte? Dafür bin ich gezielt auf Leute zugegangen, zum Beispiel den Regisseur Christoph Marthaler, dessen Arbeit ich bewundert habe. Ich habe ihn auf der Straße gesehen und einfach gefragt, ob ich bei ihm hospitieren dürfte. In diese Kreise erst einmal hineinzuschnuppern, halte ich sowieso für wichtig. Theater kann eine Art Wahlfamilie sein, ist aber auch eine spezielle Welt. Ein Netzwerk in der ‚wirklichen Welt‘ erdet und schützt vor dem ‚Abheben‘ in die Theaterwelt.“

Vorstellung vs. Realität: Was mir vorher niemand gesagt hat

„Intendantin zu sein, ist weniger künstlerische Auseinandersetzung als ich dachte. Tatsächlich garantiere ich vielmehr den Rahmen, damit das restliche Team sich künstlerisch austoben kann. Außerdem war mir nicht bewusst, dass ich als Intendantin eine Art Theaterlobbyistin bin und lernen muss, wie man das Programm verschiedenen Menschen und Gremien schmackhaft macht. Und ich dachte, dass sich die Kritik am Theater mehr auf den Inhalt der Stücke bezieht und nicht so viel auf meine Person. Ich musste lernen, resilienter zu werden und schlicht nicht alles zu lesen, was in der Zeitung oder im Internet über mich geschrieben wird.“

Schritte, die meine künstlerische Richtung bestimmt haben

„In London und der damals aufkeimenden Theater-Bewegung ‚Sitespecific‘ habe ich viel über die Rolle des Raums gelernt. Sitespecific bedeutet, dass Zuschauer:innen Theater ‚ortsspezifisch‘ erleben, also an einem für diese Inszenierung ausgewählten Ort. Die großen schweren Türen des Theater Freiburg zum Beispiel strahlen etwas anderes aus als eine Aufführung in einem Bahnhof oder einem leerstehenden Gebäude. Was ich mit meiner Kunst vermitteln will, hat sich vor allem nach dem Regiestudium herauskristallisiert. Ich finde es wichtig, unterschiedliche, sich gegenseitig vielleicht ausschließende Stimmen im Theater sichtbar zu machen, um unsere gesellschaftliche Pluralität als etwas Gutes zu feiern. Mich treibt die Frage um: Wie sieht eine künstlerische Praxis aus, die ein diverses, auch afrodeutsches oder afrikanisches Publikum mitdenkt? Außerdem ist mir die Auseinandersetzung mit strukturellem Rassismus auf der Bühne, aber auch in der Institution Theater selbst wichtig. Ich baue ein Team auf, das so divers ist wie unsere Gesellschaft. 2017 mit habe ich gemeinsam mit der Anwältin Sonja Laaser die sogenannte ‚Anti-Rassismus-Klausel‘ entwickelt: ein vertraglicher Zusatz, mit dem sich Kulturinstitutionen zu Antidiskriminierungsarbeit verpflichten.“

Welche Fragen man auf Partys gestellt bekommt

„Am häufigsten höre ich: ‚Du bist was?‘ Intendant:innen gibt es eben nur im Theater und im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Seitdem nenne ich mich künstlerische Leiterin des Schauspiels. Man könnte sagen: Ich stehe am Spielfeldrand der Produktion von Theaterstücken, fördere Talente, nehme mich der Aufstellung des Teams an und muss den Kopf hinhalten, sollte ein Stück einmal schlecht rezensiert werden.“

Wie viel ich als Intendantin verdiene

„Die Bezahlung an städtischen Theatern ist über Tarifverträge geregelt. Als Intendantin arbeite ich Vollzeit und verdiene 6875 Euro brutto im Monat. In Wochen, in denen Premieren aufgeführt werden oder Festivalwochen anstehen, arbeite ich schon mal mehr als 80 Stunden. Das Herausfordernde und zugleich Tolle ist, dass ich mir meine Zeit selbst einteile. Da ich für das Theater brenne, verschwimmen Arbeit und Privatleben schnell.“

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