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S- und U-Musik
Die Band hat sich aufgelöst. Immerhin acht gemeinsame Proben hatten wir, sogar ein neues Lied haben wir zusammen geschrieben. Ein Lied über eine kleine Raupe namens Nimmersatt, die nacheinander Kirchen schändet, Menschen auf bestialische Art niedermetzelt, Religionen jedweder Couleur verhöhnt und ganze Landstriche entvölkert. Der erste Gitarrist war eh nicht so glücklich mit dem Text, besonders die Zeilen „Sie spottet übers Christentum. Und bringt dabei ein Kleinkind um“ gefiel ihm nicht so gut. Mein Alternativvorschlag „zwölf Reiche um“ fand sein Plazet. Dann kam die neunte Probe und es war aus mit der Band. Die Bassistin wollte etwas funkiges spielen, der Schlagzeuger sagte laut „Funk ist scheiße!“ Die Bassistin packte ihren Bass zusammen und verließ den Proberaum. Nach einer Funkstille von mehreren Wochen stellte sich heraus: Die Band hatte beschlossen, die Bassistin rauszuwerfen, ohne noch einmal mit allen Mitgliedern darüber zu diskutieren, ob Funk denn jetzt scheiße sei oder nicht. Mich hatte niemand gefragt, die Band löste sich auf und verpflichtete eine Sängerin und einen 52-jährigen irischen Bassisten. Anscheinend wollte man nun in Pubrock machen, kein Wunder, dass man da mit Funk nichts reißen konnte. Im Pub war Funk echt scheiße. Blöd nur: Ich hatte Blut geleckt. Sah mich schon auf der Waldbühne oder im Olympiastadion spielen mit den Stones als Vorgruppe. Eine Wahrsagerin hatte mir einmal prophezeit, ich werde so ab ca. 30 unendlich reich und später dann Residenzen in London sowie Beverly Hills besitzen. Was blieb mir jetzt noch übrig? Genau: Eine Solokarriere! Da ich kein Instrument spielen konnte, besorgte ich mir auf einem Flohmarkt zwei „Instrumente“, die wahrscheinlich jeder spielen kann, ein Metronom und ein Theremin. Als Vorbild für Reichtum durch Musik wählte ich mir zunächst Menschen, die ich früher tagtäglich hatte bewundern dürfen: Die Besame-Mucho-Zigeuner aus der S-Bahn. Ich war mir sicher, eine Marktlücke gefunden zu haben, denn schließlich hatten die weder meine Instrumente noch mein Repertoire. Auf ein altes T-Shirt schrieb ich mit rotem Edding „Besame Mucho“ und machte mit schwarzem Edding einen dicken Strich durch den Titel. Das saß! Das musste sitzen! Zu Hause übte ich mein Repertoire. Schluss mit Seemanns-Shantys und Altschlagerseligkeit, was die Leute in der Bahn wollten, war doch offensichtlich: Rock! Als Patriot und um einem Trend zu folgen, beschränkte ich mich zuerst auf deutschen Rock. Und welche Gruppe verdiente am meisten mit deutschsprachigem Rock? Richtig: Rammstein. Hatten die nicht auch immer diesen mageren Typen am Keyboard stehen, das sich immer leicht thereminig anhörte? Mein erster U-Bahn-Test stand an. Das Metronom hatte ich mir auf einen Bauarbeiterhelm gebunden, das Theremin schnallte ich mir, verbunden mit mehreren tragbaren Batteriefächern um meinen Bauch. Auf dem Weg zur U-Bahn-Station stoppte mich eine Polizeistreife. Terrorverdacht. Nachdem ich Ihnen eine Vorführung meines musikalischen Könnens gegeben und mehrfach laut „SCHWULER! MANN GEGEN MANN!“ gebrüllt hatte, wozu das Metronom klackerte und das Theremin fiepte, ließen sie mich in Ruhe, wünschten mir viel Erfolg: „Aber nicht vergessen: Fahrtkarte kaufen!“ Die Station am Senefelder Platz erscheint mir geeignet für die Uraufführung meiner Coversongs. Mit der U2 werde ich zum Alexanderplatz fahren, dort die S-Bahn nehmen Richtung Bahnhof Zoo. Hier habe ich die Zigeuner immer angetroffen, hier liegt das Geld auf der Schiene. Die Leute in der Bahn beäugen mich verstohlen und ängstlich. Ständig diese Terror-Angst! Mit lauter Stimme sage ich: „Meine sehr verehrten Menschen, dies ist…“ Die ersten Menschen erbleichen, hinter mir flüstert ein Mann mit Frankfurter Dialekt seiner Partnerin „Jetz sinn mer kaum hier unn schon werd unser Straßebahn entführt…“ ins Ohr. „Dies ist keine Entführung, das ist Musik. Ich wünsche Ihnen gute Unterhaltung.“ Und dann fange ich an. Senefelder Platz – Rosa-Luxemburg-Platz: „Mann gegen Mann“, 4 Euro 37 Cent, Rosa-Luxemburg-Platz – Alexanderplatz: „Sehnsucht“, 3 Euro 55 Cent. In der S-Bahn bin ich einerseits erfolgreicher, andererseits aber auch nicht. Gerade in die S 9 eingestiegen will ich nach der ersten Strophe von „Mann gegen Mann“ den Refrain beginnen, als mir ein Mann 20 Euro bietet, wenn ich doch „bitte, bitte, bitte“ nur aufhöre mit „dem Gegröhle, dem Gepiepse und dem Hin-und-her-Geklackere!“ Ich nehme an, steige am Hackeschen Markt in den nächsten Wagon und werde mitten in „Mein Teil“ abermals in meiner Darbietung gestört. Während eine Gruppe junger Amerikaner auf Berlin-Besuch von meinem Auftritt begeistert ist („WE LOVE RAMMSTEIN!“), bietet mir ein Mann im Anzug zehn Euro an, wenn ich meinen Vortrag stoppe. In einem Bieterduell gewinnen die Amerikaner. 100 Dollar reicher wechsle ich in der Friedrichstraße erneut den Wagen. Gerade will ich mit Metronomeinsatz „Benzin“ einläuten, als ich am anderen Ende des Wagens ein Akkordeon erklingen höre. Und dann beginnt der Krieg. Ich treibe mein Theremin in bisher unbekannte Lautstärken, der Akkordeonmann haut wie ein Wahnsinniger in die Tasten und pumpt wie ein Maikäfer, sein Kumpan mit der Blechtrompete bläst, was seine Backen halten. „Bésame! Bésame mucho como sie fuera esta noche, ich brauche Zeit kein Heroin, kein Alkohol, kein Nikotin. Brauch keine Hilfe, la ultima vez! Bésame, besamé mucho, Dynamit und Terpentin, mirarme en tus ojos, explosiv wie Kerosin, la noche la ultima BENZIN!“ Wie in Zeitlupe bewegen wir uns aufeinander zu, Kinder kreischen, Frauen versuchen verzweifelt einander Taschentücher in die Ohren zu stecken, während einige Männer sie daran hindern, um etwas zu haben, mit dem sie sich die Tränen des Entsetzens von den Wangen abwischen können. In der Mitte des Wagens stehen wir uns gegenüber: Gheorghe, der Akkordeonmann und ich. Plötzliche Stille; jetzt muss es zur Entscheidung kommen. Seine Hand zuckt auf der Tastatur, mein Finger spielt am An/Aus-Knopf des Theremin. Stark bleiben, Florian! Im selben Moment, als Gheorghe und ich gerade wieder loslegen wollen mit unserem gewöhnungsbedürftigen Medley, schreit ein verzweifelter S-Bahn-Nutzer auf: „Wieviel wollt Ihr, damit Ihr aufhört?!?! Nennt mir einen verdammten Preis! Leute! Gebt alles! Alles, was Ihr entbehren könnt!“ Er geht von Mitfahrer zu Mitfahrer, sammelt hier etwas ein und dort, bis er uns dann auf die Knie sinkend 352 Euro 70 Cent sowie eine goldene Uhr überreicht: „Die 70 Cent sind von dem „Motz“-Verkäufer da hinten. Langt das? Bitte!“ Die rumänischen Roma und ich schauen uns kurz in die Augen, ein Nicken, wir sind handelseinig. Am Lehrter Bahnhof steigen wir aus, setzen einen Vertrag auf, der die Zusammenarbeit regelt, versetzen irgendwo in der Kantstraße die Golduhr und legen einen Teil unseres Gewinns in Alkoholika an. Als ich um halbfünf aus einer mir unbekannten Bar torkele, habe ich drei neue beste Freunde gefunden und mich für einen weiteren Geschäftstermin in drei Tagen verabredet. Beverly Hills, ich komme! Illustration: Daniela Pass Hier kannst du dir die aktuelle Job-Kolumne vorlesen lassen.