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Vor dem Kinder-Tribunal

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Ich bin kein Astronaut und bewohne kein Baumhaus. Ich schätze mal, ich habe verkackt.  

In einer nachdenklichen Stimmung am vergangenen Wochenende fragte ich mich: Was wäre, wenn ich heute vor mein junges Ich treten müsste und ihm Rede und Antwort stehen? Wäre der achtjährige Lucas froh, den erwachsenen Lucas so zu sehen, wie er in den 20 vergangenen Jahren geworden ist? Wäre er enttäuscht? Oder, schlimme Vorstellung: entsetzt?!

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Als Kind war ich sicher: Mein beruflicher Werdegang würde mich früher oder später zur NASA führen (möglicherweise mit Umwegen über eine Privatdetektei oder das Sondereinsatzkommando). Was meinen Lifestyle als künftiger Erwachsener anging, hatte ich den festen Plan, mit meinem besten Freund zusammenzuziehen (in ein Baumhaus), Pferdeschwanz sowie Cowboystiefel zu tragen. Frauen würden in meiner bzw. unserer Zukunft keine Rolle spielen. Arbeit im eigentlichen Sinne auch nicht.

Insofern wäre ich als Achtjähriger wohl enttäuscht von meinem derzeitigen Ich: kein Waffenschein im Geldbeutel, kein Monstertruck vor der Tür - dafür ein Schreibtischjob, der mich nur selten in akute Lebensgefahr bringt. Kein Tattoo, keine langen Haare. Obendrein eine WG mit zwei Mädchen, die jeweils feste Partner haben. Ich sehe mein junges Ich angesichts dieser Nachrichten nur stumm und bitter den Kopf schütteln.

Nun hat man als Kind ja durchaus interessante Maßstäbe, was ein gelungenes Erwachsenenleben ausmacht. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, dass ein entfernter Cousin mich auf Familienfeiern regelmäßig stark beeindruckte. Er trug Ohrringe, raspelkurze Haare, dunkle Blousonjacken und fuhr Motorrad. Er war jahrelang mein Lieblingsverwandter: Sein Lifestyle war am nächsten dran an dem, den ich von Comics und Fernsehserien kannte. Erst sehr viel später erfuhr ich, dass ebendieser Cousin in jenen Jahren ein Hooligan mit nebulösen Kontakten zur rechten Szene war. Dass ich diesem Vorbild heute nicht entspreche, stimmt mich eher froh.

Jetzt aber du: Wenn du heute dein Ich vor 20 Jahren treffen würdest – was würde dieser junge Mensch von dir denken? Hielte er dich für ein angepasstes Würstchen? Für einen doch überraschend hart gekochten Typen? Wofür würde dein Kindheits-Ich dich bewundern, abgesehen von deinem Bart oder deinen Brüsten? Und, andersrum: Was würde es dir nicht verzeihen?

Text: lucas-grunewald - Illustration: Sarah Unterhitzenberger

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