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Ist die Politikverdrossenheit eine Erfindung der Medien?
Die alte Dame strahlt mich an: „Ach, das hat gut getan! So viele Menschen, so viele junge Leute auf der Straße! Endlich bewegt sich wieder was, endlich gehen wir wieder demonstrieren!“ Ich sitze im brechend vollen Zug auf meinem Koffer, neben mir eine etwa 80-jährige Frau, Anti-Atom-Fahne im Gepäck und ganz offensichtlich auf dem Heimweg von der Demo in Berlin. „Politikverdrossenheit, ach was! Das ist doch eine Erfindung der Medien. Wer am Samstag vor dem Kanzleramt war, der weiß, wie es in Deutschland aussieht. Jung und alt, reich und arm, alle sind sie auf der Straße!“
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
In der Folge entwickelt sich eine interessante Diskussion, auch einige andere Mitreisende schalten sich ein. 100.000 Menschen, die gegen längere Laufzeiten auf die Straße gehen und die allwöchentlichen Großkundgebungen gegen Stuttgart21 sind ein unmissverständliches Signal, soviel ist klar. Aber hat das wirkliches etwas mit einem neu erwachten Interesse an Politik zu tun? Viele der älteren Anwesenden sind sich einig und sehen die Demonstrationen nur als Auftakt für eine Welle der politischen Proteste und Meinungsäußerungen. „Wackersdorf ist lange her, aber jetzt kommt wieder etwas auf uns zu. Wer jetzt nicht nein sagt, sagt nie mehr nein. Und wenn sich die Leute erst mal für eine Sache engagieren und Gefallen daran finden, dann hören sie auch sobald nicht mehr damit auf.“
Ich bleibe trotzdem noch ein wenig skeptisch. Zu Beginn des Irakkriegs standen plötzlich eine Million Menschen auf der Straße, das allgemeine Desinteresse an Politik hat sich dadurch nicht geändert. Viele sind unserer Parteiendemokratie überdrüssig, haben das Gefühl, dass sich doch eh nichts ändere und das Kreuzchen am Wahltag vollkommen überflüssig sei. Ich fürchte, dass Demonstrationen gegen etwas nicht zwangsläufig mit einem Interesse für etwas einhergehen. Die meisten Aktiven dieses Wochenendes engagieren sich ohnehin schon bei Greenpeace, attac oder anderen NGOs, sind vielleicht bereits Mitglieder einer Partei und zumindest größtenteils keine Nichtwähler. 100.000 Menschen, das klingt nach Massenprotest, nach „dem“ Volk, das lautstark seine Meinung kundtut. Verglichen mit über 60 Millionen Wahlberechtigten ist es dennoch eine relativ unbedeutende Minderheit.
Bitte nicht falsch verstehen: Ich finde es (von Aufmärschen der Rechten einmal abgesehen) gut und richtig, wenn Menschen für ihre Überzeugungen eintreten und demonstrieren gehen. Proteste haben schon viel bewirkt, seien es die Massenkundgebungen gegen den NATO-Doppelbeschluss oder die Montagsdemonstrationen der Wendezeit. Letztendlich bleiben es aber Partikularinteressen, das Engagement ist auf ein Thema beschränkt, eine wirkliche Politisierung findet nicht statt. Oder täusche ich mich da? Ist es mehr als eine Momentaufnahme, wenn die Baden-Württembergischen Grünen in Umfragen plötzlich bei 27 Prozent liegen, weil sie als einzige Partei von Anfang an gegen den Bahnhofsneubau waren? Bleibt ein Grundinteresse an Politik bestehen, wenn die Aufregerthemen von der Agenda verschwinden und wieder der gewohnte, triste Politikalltag Einzug hält? Oder werden auch in Zukunft mehr und mehr Menschen den Parteien den Rücken kehren, abgeschreckt von staubtrockenen Haushaltsdebatten, phrasenhaftem Politikersprech und dem Gefühl, dass auch bei einem Regierungswechsel letztendlich alles beim Alten bleibe?
Text: simon-hurtz - Foto: dpa