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Hingucken oder Wegsehen?

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Ich habe in den vergangenen Wochen viele Texte über den Islamischen Staat gelesen. Es waren gute Texte: beeindruckende Rechercheleistungen, kluge Essays, berührende Reportagen. Trotzdem frage ich mich, ob ich diese Texte wirklich hätte lesen sollen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Bevor ich meine Selbstzweifel erkläre, kurz zu den angesprochenen Texten: Da wäre diese Reportage der New York Times. Die Korrespondentin Rukmini Callimachi hat die letzten Monate im Leben von James Foley und anderen Geiseln der IS rekonstruiert. Sehr lang, sehr detailliert, journalistisch herausragend.

Oder Friederike Haupt, die in der FAZ über die perfide Strategie des IS schreibt: Früher waren Hinrichtungsvideos extrem brutal, man sah jedes Detail. Heute inszenieren die Terroristen ihre Enthauptungen mit Bedacht, verzichten auf extreme Gewaltdarstellungen und spielen mit der Imagination der Zuschauer. Während die alten, unzensierten Aufnahmen die meisten Menschen abgeschreckt haben, erreichen die Videos der Hinrichtungen von James Foley oder Steven Sotloff ein Millionenpublikum und werden in den sozialen Netzwerken weiterverbreitet.

Die Analyse von Friederike Haupt ist scharfsinnig und hat mich zum Nachdenken gebracht. Dennoch hatte ich nach dem Lesen ein seltsames Gefühl: Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich den Text nicht besser ignoriert hätte.

Dieses Gefühl hat sich noch verstärkt, als ich auf den Gastbeitrag des Schriftstellers Clemens Seitz in der Zeit gestoßen bin. Wie Friederike Haupt arbeitet er sich an den Enthauptungsvideos von IS, Al Kaida oder mexikanischen Drogengangs ab, schildert Szenen, von denen er schreibt, es sei „unmöglich, sich das in der ganzen Länge anzuschauen. Wer es tut, ist am Ende innerlich blind und hilflos.“ Demgegenüber seien die jüngsten Aufnahmen geradezu „benutzerfreundlich“, da sie die „Reaktion durchschnittlicher westlicher Internetnutzer“ vorausberechneten: das Wegsehen bei zu brutalen, zu blutrünstigen Details.

Die explizite Beschreibung der Hinrichtungen hat mich schockiert und angewidert. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum ich künftig lieber weiterblättere oder -scrolle, wenn ich irgendwo die Buchstaben IS lese. Das Ziel dieser Organisationen ist es, Angst und Schrecken zu verbreiten – sie terrorisieren nicht nur die Menschen vor Ort, sondern setzen darauf, mit ihren Videos Menschen auf der ganzen Welt zu erreichen und zu schockieren. Je intensiver wir uns damit beschäftigen, desto größer wird die Bühne, die ihnen einräumen.

Selbst die differenzierteste Auseinandersetzung mit den Motiven und Strategien des IS spielt diesem letztendlich in die Hände. Damit meine ich nicht, dass wir die Geschehnisse im Irak und seinen Nachbarstaaten ignorieren sollten: Natürlich ist es keine Lösung, alle Schreckensmeldungen auszublenden. Ich finde es wichtig zu wissen, was in Kobani passiert und wie es den hunderttausenden Menschen geht, die nach Syrien, in die Türkei und auch nach Deutschland flüchten. Aber was nützt es mir, wenn ich erfahre, dass wieder ein Mensch gekidnappt wurde? Muss ich wissen, dass erneut zwei Geiseln hingerichtet wurden?

Das ist einerseits eine medienethische Frage (sollten Journalisten darüber berichten?) – da ich aber keinen Einfluss darauf habe, worüber die New York Times schreibt oder was in der Tagesschau läuft, breche ich die Frage lieber so herunter, dass ich mit meinem Verhalten tatsächlich etwas ändern kann: Wäre es besser, in Zukunft einen Bogen um Informationen über den IS zu machen, die über die knappe Zusammenfassung der politischen Lage hinausgehen? Selbst wenn ich mir nicht die Enthauptungsvideos selbst anschaue, sondern mich „nur“ auf einer Meta-Ebene damit beschäftige, bleibt die Wirkung auf mich dieselbe: Ich grusele mich und bin entsetzt ob der unfassbaren Gräueltaten, die sich Menschen gegenseitig antun.

Wie geht ihr damit um? Lest ihr solche Texte, weil ihr es wichtig findet, nicht die Augen vor dem Leid so vieler Menschen zu verschließen? Glaubt ihr, dass euch diese Auseinandersetzung hilft, die Welt oder zumindest die Beweggründe der Terroristen besser zu verstehen? Oder sagt ihr: Ich muss das nicht wissen, ich will das nicht wissen, ich ignoriere das!

Update: Ihr habt es natürlich sofort bemerkt: Einen ganz ähnlichen Ticker hatten wir bereits im August. Das ist mein Fehler: Die anderen Redakteure hatten mich darauf hingewiesen, ich habe den entsprechenden Text auf die Schnelle dann aber nicht gefunden und es danach vergessen. Bitte entschuldigt.

Allerdings finde ich, dass es durchaus einen Unterschied zwischen der heutigen Frage und der von Christina gibt: Beim ersten Ticker geht es vor allem um die Brutalität der Videos, die Frage lautet: Willst du das sehen. Das kommt für mich ohnehin nicht in Frage; wenn ich ein solches Enthauptungsvideo anschauen würde, könnte ich tagelang nicht schlafen. Ich frage eher: Willst du dich mit der Berichterstattung über den IS auseinandersetzen? Oder wäre es nicht besser, alle detaillierten Informationen über solche Terrororganisationen zu meiden, weil auch das letztendlich ein Teil ihrer Propaganda-Strategie ist?

Text: simon-hurtz - Illustration: Sandra Langecker

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