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Das Gedächtnis ist ein Filmstudio
Die Psychologin Carol Tavris hat eine besonders wertvolle Kindheitserinnerung. Sie und ihr Vater lesen eine Geschichte aus einem ihrer Lieblingsbücher, dem Märchen „Das wundervolle O“. Beide amüsieren sich über die Eigenheiten der schüchternen Protagonistin Ophelia Oliver, die, während sie ihren Namen ausspricht, immer wieder die O's verschluckt. Dieser Augenblick ist Tavris deshalb so detailliert in Erinnerung geblieben, weil ihr Vater starb, als sie noch ein kleines Mädchen war.
Jahre später, als Erwachsene, entdeckte sie ihre Ausgabe des Buches wieder. Das Erscheinungsdatum: 1957. Sie stutzte. Ihr Vater war bereits ein Jahr zuvor gestorben. Ein transzendentales Ereignis? Wohl kaum: Unser Gedächtnis ist keineswegs eine präzise Abbildung der Realität. Auch wenn Rückblicke immer den Anschein haben, authentisch zu sein, handelt es sich oft nur um Pseudo-Erinnerungen oder Wunschvorstellungen.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Hä? Ich könnte schwören, dass das so war!
Etliche wissenschaftliche Versuche zeigen, dass unser Gehirn lügt, betrügt, uns Streiche spielt und das Geschehene verzerrt. Das Gedächtnis ist eben kein Archiv, sondern eher ein Filmstudio, in dem Erinnerungsstreifen so gedreht werden, wie sie in unser Weltbild passen. Nachträgliche Fehlkonstruktionen sind der Grund, warum selbst glaubwürdige Autobiografien oft Hollywoodcharakter haben und vielen Enkeln die rosigen Erzählungen ihrer Großeltern vom Krieg nicht immer ganz geheuer vorkommen.
Wie sehr Geschehnisse subjektiv durchlebt und erinnert werden, ist jedem deutlich, der schon mal eine Zeugenaussage bei der Polizei machen musste. Auch tugendhafte Bürger tun sich meist schwer dabei zu beurteilen, ob zuerst der Fahrradfahrer um die Ecke bog, das Auto bremste oder ein lautes Hupen zu hören war.
Wenn unser Gedächtnis mehr spekulativ als retrospektiv arbeitet, ist es nicht verwunderlich, was mein Freund C. bis heute behauptet: Er habe mit mir eine Kinovorstellung von „Sweeney Todd“ besucht. Dabei habe ich den Film bis heute nicht gesehen, ich bin mir da felsenfest sicher.
Wie ist das bei dir: Kannst du auch an Ereignisse zurückdenken, bei denen die Unterscheidung zwischen Vorstellung und Erinnerung fraglich ist? Oder hast du schon mal Freunde dabei ertappt, dass sie eine Kindheits-Episode erzählen, von der du weißt, dass sie falsch ist, weil du dabei warst? Möchtest du deine liebsten Szenen aus dem Vietnam-Krieg schildern? Oder hast du diesen Ticker schon einmal gelesen? Teile mit uns deine Erfahrungen – oder zumindest das, was du für solche hältst.
Text: julian-schmitzberger - Foto: claudiarndt / photocase.com