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Zwischen zwei Brücken: Neuland

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Patrick hat vier Stunden geschlafen. Seine roten Haare sind verstrubbelt, neben ihm steht eine Dose Red Bull, aus der er hin und wieder einen Schluck nimmt. In der Zwischenzeit scannt er Jägermeister-Ampullen und Zigaretten, fragt „Achtfünfundneunzig“ oder „Big oder Supergroß?“. Um 5 Uhr morgens wird er einen Schlauch in die Hand nehmen, die Tür zum Klo öffnen und das Wasser laufen lassen. Die Putzfrau hat der Chef entlassen, die hätte nichts gebracht. Zwei Mädchen kommen im Schnellschritt und mit verschränkten Armen auf die Jet-Tanke an der Landsbergerstraße zu. „Die wissen wieder nicht, dass sie sich erst den Schlüssel holen müssen. Seh ich doch auf den ersten Blick“, sagt Patrick und kramt einen zu groß geratenen Türöffner unter der Theke hervor. Die beiden verschwinden gemeinsam in der Toilette. Dann betreten zwei Lederjacken den Raum und bezahlen grimmig einen halben Liter Wodka. „Wochenende ist immer Abschuss“, sagt Patrick. „90 Kästen Bier gehen im Schnitt an einem Abend weg.“ Dann macht er noch einen Witz über den Baseballschläger unter der Theke und verkauft einen Six-Pack an eine Gruppe 18-Jähriger. Tankstellen geben Halt. Sie sind die Fixpunkte in der zerfaserten Gegend zwischen zwei Brücken und einem Gleisstrang. Weil der Alkohol billig ist und weil man dort theoretisch Zigarettenmarken namens „Burton“ und Industrie-Lebensmittel namens „Bifi Balls“ kaufen könnte. Und weil jeder rein darf. Weit weg von Isis alles-egal-„Excess-Cafe“, weg von schlacksigen Jungs im Atomic-Cafe, die wieder mal die einzigen sind, denen die neueste Mode – Karottenhosen – steht, und weg von den Leuten, die um acht Uhr früh verdrogt aus der Roten Sonne heraus gekrochen kommen, um an der Isar einen letzten Joint zu rauchen. Weg davon, kennt man schon! Auf nach Westen! Auf ins Neuland!

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Wo München noch Platz hat: Zwischen Friedenheimer und Donnersberger Brücke "Naa-Gaa" Aber erst noch diesseits der Gleise zur Nachtgalerie. Dort, und vor dem M-Park, das früher einmal das „4004“ war, immer wieder junge Mädchen, deren Reize nicht so furchtbar verklausuliert sind wie die der Innenstadt-Frauen, und die in ihr mit Stickern verziertes Handy die Koseform von „Nachtgalerie“ sprechen. Sie ziehen die Vokale lang und sagen „Naaa-Gaaa“. Viel rosa (auch bei Jungs), viel bauchfrei, ab und zu String-Tanga. Manchmal streiten sich die Mädchen und man denkt sich: Innenstadt-Mädchen würden diese Probleme anders lösen, zumindest würden sie ihre Freundinnen vermutlich nicht „Oida“ nennen. Vor der Naaa-Gaaa steht ein privater Sanitätsdienst. Für die Alkoholleichen. Aber Alex Halas, Geschäftsführer von Medivac, würde sich so nicht ausdrücken. Prophylaktisch sei man hier, da die „Preise für Alkoholika sich nahe am Flatrate-Niveau“ bewegten und das bringe eben gewisse Ausfallerscheinungen mit sich. Für den Betreiber ist es auch nicht so gut, wenn am Abend fünfmal der Sanker mit Blaulicht anrückt. Heute ist Hawaii-Party, das bedeutet „Preise nahe am Flatrate-Niveau“. Dann rennt Alex plötzlich weg in Richtung Schlange. Zwei Minuten und 50 Atemzüge später ist Alex wieder da: „Hab einen gesehen, wie er über den Zaun klettern wollte. Saugefährlich das.“ Auf der Brücke Auf der Friedenheimer-Brücke könnte man einen Blick durch ein vergilbtes Fenster auf Nachtzüge werfen. Sich darüber Gedanken machen, was wäre, wenn man in einem dieser Züge säße, auf dem Weg nach Turin, nach Venedig oder in Gottes Namen auch nach Würzburg. Sich dem hingeben, was einem die Welt und der Zufall so böten, und wenn es nur ein Espresso am Turiner Bahnhof wäre. Dass man den ganzen Sumpf aus Alkohol, Bifi Balls und Hawaii-Partys hinter sich lassen könnte. Und man dann irgendwo, neu und rein gewaschen, vom Leben mit offenen Armen empfangen werden würde. Tut man aber nicht, außer man ist gerade sentimental oder besoffen oder beides. Man fährt weiter, über die Brücke, dorthin, wo München noch Platz hat, dorthin, wo Neuland ist. Neuland Das Neuland ist ein rechteckiger Klumpen von Haus, modern und geräumig. Urbanen Lebensraum schaffen, so das erklärte Ziel der Macher. Ehrenwertes Ziel. Davor kreuzt ein Polizeiwagen und Menschen mit Sonnerbrillen kommen entgegen. Es riecht nach Gras. Menschen sitzen auf Bierbänken oder auf Ledersofas im Freien. Merken: Techno hat keinen Modestil mehr. Techno ist Nische geworden, aber es gibt ihn noch, hier im Neuland auf dem „electrogarten2“. Der einzige Tänzer: ein gut aussehender Mann mit Kuhfellweste. Ab und zu rollt er sich auf dem Teerboden. Ein Mann mit polierter Glatze erzählt von den wilden Zeiten in Riem, damals in den Neunzigern. Die Tür zu den Ateliers ist offen. Oben haben drei Punks Bandprobe. Jemand hat jetzt ein Feuer in einer Mülltonne entzündet. Der Mann mit der Kuhfellweste ist entzückt und wirft ein Brett in die Flammen. Dann rollt er sich wieder auf dem Boden. Im Neuland ist Platz und es ist gut, dass es da ist, denn es erinnert an die Kunstgaragen, die es früher in der Paul-Heyse-Straße gab. Außerdem gibt es Tegernseeer Hell für drei Euro. Trotzdem jetzt – weiter, runterkommen, Halt finden, zur nächsten Tanke. Shell-Tanke Daniel hat das Gesicht eines Lausbuben, der etwas zu oft in Schlägereien geraten ist. Er kommt aus Dachau, und das sei „scheiße, weil jeder gleich sagt: Ach, aus dem KZ“. Die Arbeit mache schon Spaß, müsse Spaß machen, „ist der Laden vom Bruder“, sagt er und grinst. Die Shell-Tankstelle jenseits der Gleise wird gerade umgebaut und jetzt sitzt Daniel in einem kleinen, schwülen Container und hört deutschen Hiphop. Früher hätten sie hier ab 20 Uhr Alkoholverbot gehabt, sagt er. Und Roy, sein Kollege, meint, ungefähr dreimal am Abend müsse er die Leute wegschicken, weil sie zu viel Müll und Lärm machen. Besonders während der „Free’n’easy“-Zeit. Indie- und Emopunks kommen Tramladungsweise. Horden von Teenies mit gestreiften T-Shirts und Pali-Tüchern, die billig Bier wollen und dann ins Backstage verschwinden. Aber heute kommt niemand. „Die stehen da sonst in Zweierreihen bis zur Zapfsäule“, ruft Daniel noch aus dem Fenster. Viel schlimmer als die Typen aus dem Tanzpalast von gegenüber. Tanzpalast Der Tanzpalast sieht ein bisschen aus wie ein Puff. Das Bier ist teuer, die Musik billig. Jemand hat vor 20 Jahren die Wände mit neonfarbenen Planeten bemalt. Davor stehen in Reih und Glied rote Sitzgarnituren, auf jedem Tisch ein „Reserviert“-Schild. Vielleicht kommt gleich eine polnische Hochzeitsgesellschaft, besetzt alle Bänke und feiert, wie nur in Osteuropa gefeiert wird. An der Bar lernt man Bauarbeiter kennen, die einem auf polnisches Bier einladen und froh sind, dass man ihnen zuhört. Auch wenn man sie nicht versteht. Die Kellnerinnen sind blond und tragen Tabletts mit Wodka-Flaschen und Red-Bull-Dosen, die sie lächelnd an die Tische bringen. Und für einen Moment möchte man eines der Mädchen haben oder sein, mit hohen Wangenknochen und einer Haut, die im Schwarzlicht leuchtet. Aussehen wie die Frauen, die einem sonst die Haare schneiden, aber tatsächlich Germanistik studieren, begehrt werden von stiernackigen Muskelpaketen mit Kurzhaarschnitt. Aber nur für einen Moment. Dann muss man wieder mit dem Bauarbeiter anstoßen, mit ihm Bruderschaft trinken und nichts von seinem Leid verstehen. Backstage Backstage zum Schluss. Die verschmiertesten Toiletten der Stadt sind hier, aber nicht eklig, alles stimmig, glaubwürdig. Das muss hier so sein. Obwohl nichts los ist, haben zwei Jungs einen Vollrausch. Da war ein Konzert von einer Band, die niemand kennt, „aber voll gut“, wie ein Mädchen sagt. Sei echt schade, dass nur so wenige Leute da gewesen sind. Eine Stunde später fragt das Mädchen einen Jungen, ob er einen Geheimtipp habe. Irgendwo, wo noch was los sei. Er sagt: „Kauf’ dir halt einen Käsekuchen an der Tanke.“ Mitten im neuen Partyviertel präsentiert jetzt.de das 13. Free&Easy-Festival auf dem alten und neuen Backstagegelände. Von 27. 8. bis zum 9. 9. gibt es dort Vollversorgung für Freunde des gepflegten Ausgehens. Bands, DJ's, Theater, Podiumsdiskussionen, eine tägliche Filmvorführungen und das meiste davon umsonst - besser kann man den Herbst gar nicht einläuten.

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