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Zu Gast bei Ausbeutern
Die Lösung ist ein Reisgericht. Eine verdammte Paella. Ganz einfach, sagt Miguel in die elf Gesichter, die ihn anstarren: Die Spanier sollen kochen. Abends, bei jemandem zu Hause, für den Rest der ausländischen Belegschaft. Für die Portugiesen, die Griechen, die Italiener. Ist doch klar, sagt Miguel: Keiner hört sich nach Feierabend gern Reden von Gewerkschaftern an. „Aber jeder isst gern.“ Und wenn Menschen zusammen Paella essen, reden sie auch miteinander, egal, woher sie kommen. Zum Beispiel über ungerechte Löhne, miese Arbeitsbedingungen und erpresserische Strafzahlungen. Und aufs Reden kommt es an, sagt Miguel.
Er lehnt sich in das zersessene Sofa zurück, vor sich sein Notizbuch, sein iPhone 3 und ein halb geleertes Glas Erdinger Weißbier. Er guckt erwartungsvoll. Der 34-Jährige und die elf Menschen sitzen in Jacken im kalt verrauchten Hinterzimmer eines Cafés in Kreuzberg. Die Plakate an den Wänden rufen zur Unterstützung des „Volkskriegs in Indien“ auf und zum Kampf gegen „DNA-Sammelwahn“ und „RAF-Paragraf §129“. Linker Kampfgeist aus drei Jahrzehnten klebt an der Wand.
Miguel und die elf Menschen, die heute Abend im Halbkreis vor ihm sitzen, sind Spanier. Geologen, Krankenpfleger, Chemiker, Sozialarbeiter. Sie sind Auswanderer. Wobei Miguel das Wort „Exilanten“ lieber mag. In „Exil“ schwingt mit: Verbannung, Vertreibung, Zwangsumsiedlung. Das klingt mehr nach dem, was sie aus Spanien hierher in den deutschen Herbst getrieben hat, in dieses kalte Hinterzimmer: die Krise in der Heimat.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Miguel Sanz, Marta Cazorla Rodriguez und Steffen Mena Ángel (v. l.) haben die Grupo de Acción Sindical mitgegründet - eine Art Guerilla-Gewerkschaft für Spanier. Aber viele haben Angst, sich zu organisieren.
Die Paella ist Miguels Lösungsansatz für das Problem zweier spanischer Krankenpfleger an einer Klinik in Brandenburg. Sie haben sich über Facebook bei ihm gemeldet. Sie seien am Ende, sagt Miguel. Zwölf-Stunden-Schichten, kaum Pausen. Außerdem haben sie herausgefunden, dass sie fünf Euro pro Stunde weniger bekommen als die deutschen Kollegen. Sie wollen kündigen. Aber ihnen droht mal wieder: „la multa“. Die Strafe. „Wie viel?“, fragt einer schräg gegenüber von Miguel. „Zwölftausend“, sagt Miguel.
12 000 Euro Strafe, wenn die Spanier ihren Vertrag vorzeitig kündigen: Das ist „la multa“, und das dahinter stehende juristische Konstrukt hält derzeit tausende EU-Migranten in Deutschland in schlechten Arbeitsverhältnissen. Dazu gleich mehr. Wegen la multa sitzen Miguel und die anderen hier, seit Monaten, jeden zweiten Dienstagabend. Wegen la multa fahren sie einmal die Woche in Miguels altem VW-Golf mit spanischem Kennzeichen durch Ostdeutschland und besuchen andere Spanier, die sich an ihrem Arbeitsplatz in der Fremde nicht mehr zu helfen wissen. Sie erklären ihnen, wie sie sich wehren können, was ein Betriebsrat ist. Vermitteln den Kontakt zur zuständigen Gewerkschaft.
55 Prozent der jungen Spanier sind arbeitslos. Das ist eine gute Nachricht für den deutschen Pflegemarkt
Miguels Gemeinschaft nennt sich Grupo de Acción Sindical, Abkürzung GAS, auf Deutsch „Gruppe für Gewerkschaftsaktion“. Sie vermitteln zwischen Arbeitern, die oft nicht mal wissen, was Gewerkschaft auf Deutsch heißt, und Gewerkschaften wie Verdi, wo wiederum kaum jemand Spanisch spricht.Das nächste Thema im Kreuzberger Hinterzimmer: Eine Chemie-Laborantin in Berlin hat sich gemeldet, weil sie ohne Atemschutz mit giftigen Chemikalien arbeiten muss. Miguel öffnet sein Notizbuch: „Wer erkundigt sich zum Thema Arbeitssicherheit?“ Handzeichen. „Und wer kommt morgen mit nach Brandenburg und schlägt denen das mit der Paella vor?“ Handzeichen.
Miguel Sanz, 34, wuchs in der spanischen Arbeiterbewegung auf. Seine Eltern waren in der kommunistischen Partei in Andalusien. Dort kämpften die Gewerkschaften zu der Zeit noch gegen Hungersnöte unter den Landarbeitern. Miguel studiert Umweltwissenschaften. Als er 2010 wie Millionen andere seinen Job verliert, widmet er sich hauptamtlich dem Arbeitskampf. Einmal plündern er und andere Aktivisten symbolisch die Gemüseabteilung eines Supermarkts und verteilen das Essen an Arbeitslose. 2011 türmt sich die Unzufriedenheit der jungen Leute in Spanien zu einem landesweiten Protest. Monatelang besetzen junge Arbeitslose die öffentlichen Plätze. Die Bewegung des 15. Mai entsteht, kurz: 15-M. Miguel schließt sich ihr an.
2013 kommt er nach Berlin, seine Freundin ist Deutsche. Auch hier sind inzwischen Hunderte Mitglieder der 15-M-Bewegung, sie vernetzen sich, eher aus Gewohnheit als aus Notwendigkeit. Miguel macht mit. Und merkt an einem Abend im Januar, dass seine Erfahrung nützlich sein kann.
An jenem Abend kommen drei spanische Pflegerinnen zum Treffen der 15-M-Leute. Sie sehen müde aus. Sie sagen, sie halten die Arbeit nicht mehr aus, die langen Schichten bei Patienten, die mitten in der Provinz leben, neun Tage am Stück. Sie haben versucht, ihren Dreijahresvertrag vorzeitig zu kündigen. Aber das Unternehmen verlangt für die Kündigung tausende Euro Strafe. Miguel ahnt, dass es in diesem Land eine neue Aufgabe für ihn gibt.
Hinter der „Strafe“, gegen die er kämpft, steht ein Wort wie ein grauer Aktenordner: Pflegenotstand. Die Deutschen werden älter und schwächer, es fehlen Leute, die sie pflegen. Zur Stunde gibt es 30 000 offene Stellen in der Altenpflege. Jedes dritte Krankenhaus findet nicht genügend Pflegepersonal. Diesem Land fehlt eine Kleinstadt voller Pfleger. Aber es gibt sie nicht. Zumindest nicht in Deutschland.
Deshalb werben Pflegeheime und Krankenhäuser schon seit Jahren ihr Fachpersonal im Ausland an. Erst in Polen, Bulgarien, Rumänien. Seit 2010 hat sich eine neue, wertvollere Quelle aufgetan: Die Krise hat in Südeuropa Millionen junger, gut ausgebildeter Menschen einer Perspektive beraubt. In Spanien sind derzeit 55 Prozent der jungen Leute arbeitslos – eine gute Nachricht für den deutschen Pflegemarkt. Eine Generation fertig ausgebildeter junger Menschen, die daheim keine Zukunft hat, bedeutet in der Logik des Kapitalismus in Zeiten der offenen Grenzen: Viel gute Arbeit für sehr wenig Geld.
Private Pflege- und Klinik-Konzerne veranstalten in Spanien deshalb neuerdings Massenbewerbungsgespräche. Sie bringen stapelweise fertige Arbeitsverträge mit und bekommen Wochen darauf Ryanair-Flugzeugladungen voller Mitarbeiter, die motiviert sind, weil sie endlich einen Job haben. Etwa 1500 junge Leute aus dem EU-Ausland werden jedes Jahr in Deutschland als Pfleger anerkannt. Sie beheben den Pflegenotstand, der Staat zahlt ihnen dafür zum Beispiel den Sprachkurs.
In einem Hochhaus in Berlin-Mitte sitzt Paula Hernández auf einer Couch unter einer niedrigen Decke. Die 27-Jährige heißt in Wahrheit anders. Sie war eines der Mädchen, die sich im Januar an Miguel wandten. Sie hat fünf Jahre studiert, in Spanien lernt man Krankenpflege an der Uni. Vor einem Jahr hat sie mit 14 anderen Pflegern in Madrid einen Arbeitsvertrag unterschrieben: Bei der Gesellschaft für medizinische Intensivpflege, die kranke Menschen zu Hause versorgt. Ein lohnenswertes Geschäft, das viele Pflegefirmen für sich entdeckt haben. Die Krankenkassen zahlen ihnen pro Patient 20 000 Euro im Monat und mehr, heißt es. Paula bekam 9,50 Euro die Stunde, die Gewerkschaft Verdi rechnet vor, dass die Kosten bei fünf spanischen Pflegern pro Patient insgesamt bei etwa 14 000 Euro im Monat liegen. Der Rest bleibt bei der Firma.
Drei Monate später saß Paula irgendwo in Schleswig-Holstein im Haus einer Frau mit einem schwerbehinderten Sohn und sollte putzen. Danach im Supermarkt einkaufen. Und dann den Hund Gassi führen. Zwölf Stunden am Tag. Paula wirkt mit ihren kräftigen Händen und flinken Augen nicht wie jemand, der sich schnell überfordert fühlt. Aber nach drei Monaten war sie am Ende. Sie wollte kündigen. „Und plötzlich schuldete ich der Firma 3600 Euro.“
Wer vor Ablauf des Vertrages kündigt, dem drohen Strafen - schließlich hatte das Unternehmen Kosten
Der Grund: Damit ein spanischer Pfleger in Deutschland als Krankenpfleger arbeiten darf, muss er deutsch können. Der Staat fordert Sprachniveau B2, die vierte Stufe auf der sechsstufigen „Kompetenzskala“ der EU. Zeitbedarf: sechs Monate. Weil der Staat den wertvollen Fachkräften den Deutschkurs zahlt, sparen die Unternehmen viel Geld. Sie müssen die Fachkräfte während dieser Zeit nur freistellen. Und sie währenddessen bezahlen. Sind die aber unzufrieden und wollen kündigen, sagen die Unternehmen: Wir hatten Kosten, weil wir euch für den Sprachkurs freigestellt haben. Wenn ihr vor Ablauf des Vertrags kündigt, wollen wir diese Kosten zurück. Bis zu 12 000 Euro.Kalle Kunkel ist zuständiger Sekretär bei Verdi, Miguel hat ihn im Frühjahr auf die Verträge mit den spanischen Pflegern aufmerksam gemacht. Für den Gewerkschafter sind sie eine „Strategie, mit der die Unternehmen billige Fachkräfte anwerben.“ Kunkel hat die Klauseln mit der Strafzahlung seither überall entdeckt, nicht nur in Paulas ehemaliger Firma. „Das ist ein flächendeckendes Phänomen in der ganzen Branche.“ Die Unternehmen binden die jungen Arbeitslosen in Spanien mit Verträgen gezielt für mehrere Jahre an sich. Gerade für die unangenehmen Aufgaben, für die man etwa sechs Tage die Woche weit weg von der eigenen Wohnung bei Patienten auf dem Land arbeitet. „Und zwar für knapp über dem Mindestlohn“, sagt Kunkel, „und bevor die Leute in Deutschland sind und merken, dass hier im Schnitt deutlich besser bezahlt wird.“ Pfleger im öffentlichen Dienst bekommen pro Stunde knapp fünf Euro über dem Mindestlohn.
Am nächsten Morgen sitzt Miguel in seinem staubigen VW-Golf am Berliner Ostkreuz und stopft sein Handy wütend in die Jackentasche. Draußen ist es oktoberlich nassgrau, neben Miguel sitzt sein Kollege Steffen, der mit zur Klinik in Brandenburg fahren sollte. Eigentlich wollten sie mit den beiden Spaniern zu Mittag essen. Ihnen raten, sich mit anderen ausländischen Pflegern zusammenzuschließen. Die Paella zu kochen. Am besten einen Betriebsrat zu gründen! Aber eben rief der eine an. Er sei krank. Dann rief der andere an. Er habe spontan einen Termin bei der Botschaft. „Wer weiß, ob das stimmt“, sagt Miguel und lässt den Motor an. Er kennt das: Die Leute haben Angst, sich zu organisieren.
Miguel ist es gewohnt, dass Menschen absagen. Wer der Armut entkommen ist, hat Angst, erneut alles zu verlieren
Auch Florian Wilde kennt das. Er ist Referent der Rosa-Luxemburg-Stiftung, zuständig für Gewerkschaftspolitik. Gelegentlich arbeitet er mit Miguel und der GAS zusammen. „Das Risiko gibt es in allen Bereichen prekärer Beschäftigung“, sagt er: „Wo es noch keinen Betriebsrat gibt, gehen die Arbeitgeber oft harsch gegen Leute vor, die sich organisieren wollen. Und diese Migranten kommen ja gerade her, weil sie der Armut daheim entkommen wollen. Die tun sich extra schwer, hier alles aufs Spiel zu setzen.“Paula, die Pflegerin in Schleswig-Holstein, blieb damals. Die 3600 Euro hätten sie ruiniert. Sie arbeitete weiter, bis Miguel und die GAS ein Treffen mit Kalle Kunkel von Verdi organisierten. Dann kündigte sie, das Unternehmen behielt ihren letzten Monatslohn. Den Rest hat es bis heute nicht eingeklagt. Am Telefon weist eine Sprecherin der Firma auf eine schriftliche Erklärung im Internet hin: „Wir erwarten, dass die Pflegekräfte die erworbenen (Deutsch-, d. Red.) Qualifikationen zunächst dem Unternehmen zur Verfügung stellen“, steht da. „Nur wenn der Mitarbeiter grundlos oder fristlos das Arbeitsverhältnis abbricht, muss er sich anteilig (...) an den entstandenen Kosten beteiligen.“
Der Deutsche Gewerkschaftsbund betreibt in ganz Deutschland Beratungsstellen, die EU-Ausländern helfen sollen, faire Löhne durchzusetzen. Seit ein paar Monaten ist man dort gut damit beschäftigt, Spanier zu beraten, die durch Vertragsstrafen an der Kündigung gehindert werden sollen. Grob geschätzt 5000 ausländische Pfleger dürften derartige Verträge haben. Die Berliner Beraterin des Gewerkschaftsbunds beobachtet „ein ganz neues Geschäftsmodell“, das sich mit den Fachkräften aus den Krisenländern entwickelt hat: „Die holen inzwischen turnusmäßig Pfleger nach Deutschland. Wenn die das Arbeitspensum schaffen, sind sie gutes, billiges Personal.“ Wenn sie frustriert und erschöpft kündigen, „bekommen die Unternehmen durch die Strafe ihr Geld zurück und holen die nächsten.“
Solche Klauseln sind nicht illegal, sagt Kalle Kunkel von Verdi. „Aber sie nutzen die Notlage in den Krisenländern bewusst aus und importieren sie nach Deutschland.“
Paula hat innerhalb einer Woche einen neuen Job gefunden. Sie arbeitet jetzt in Berlin, gleich ums Eck, und bekommt 14 Euro die Stunde. Wie ihre Kollegen. Den Deutschkurs macht sie in ihrer Freizeit.
Text: jan-stremmel - Foto: Monika Keiler