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Wohnzimmer mit Saloontüren
Als ich vor über zehn Jahren aus dem Vorort in meine erste eigene Wohnung in die Maxvorstadt zog, fühlte ich mich sehr erwachsen. Innenstadtlage, Geschäfte an jeder Straßenecke und im Nachbarhaus sogar eine Kneipe, die man jederzeit besuchen konnte, ohne dass man sich im Winter dafür auch nur eine Jacke anziehen musste. Das fühlte sich weltstädtisch und lebendig an. Wie in Fernsehserien, in denen sich die gesamte Nachbarschaft immer im Café an der Ecke trifft und jeder jeden in seinem Viertel kennt.
Bis zu meinem ersten Kneipenbesuch verging aber einige Zeit. Zu schäbig sahen die alten Palmen hinter den verrauchten Glasscheiben der Schaufenster aus, zu eingeschworen wirkte die Gemeinschaft, die ich dahinter am Tresen sitzen sah. Der Laden warb mit Pool-Billard und sah größer aus als die ganzen Kneipen in der Umgebung, die meist nicht mehr als eine Tür mit Tresen waren und „bei Inge“ oder „bei Gitti“ hießen.
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Eines Abends saß ich mit Freunden bei mir zu Hause. Als wir zu späterer Stunde doch noch raus wollten, beschlossen wir: „Ach, gehen wir halt mal ins Playoutdri“. Der Name – wie ich später erfahren sollte, handelte es sich dabei um die Verbindung aus „Play“, „Out“ und „Drink“, die letzten zwei Buchstaben hatten aber nicht mehr auf das Kneipenschild gepasst – war genauso skurril wie die Stimmung dort: Wie ein Saloon, holzvertäfelt, mit Wildwest-Schwingtüren. Neben der langen Bar blinkten Flipper und Automaten, im hinteren Teil standen Billardtische und eine Jukebox mit Country- und Rockmusik. So müssen Kneipen ausgesehen haben, als in München das Nachtleben in die Geschichte einging.
Das gefiel uns, also kamen wir wieder. Erst selten, dann jedes Wochenende. Nach einigen Monaten wollten meine Freunde aber wieder in die üblichen Clubs und Cafés gehen. Ich wollte bleiben. Während das Playoutdri für sie nur irgendeine Kneipe in der Schellingstraße war, wurde es für mich zur Erweiterung meines Wohnzimmers. Ich hatte zum ersten Mal eine Stammkneipe. Aus den Spielabenden wurden Thekenabende, bei denen ich Gäste und Gastgeber kennenlernte. Fast beiläufig hörte ich die Lebensgeschichten von Menschen, mit denen ich anderswo nie in Kontakt gekommen wäre. Ich erfuhr, wie Herr und Frau Pohle, in deren Besitz die Kneipe seit 36 Jahren ist, in den Fünfzigerjahren als politische Flüchtlinge aus Leipzig kamen, um sich dann in München eine neue Existenz aufzubauen. Ich hörte, dass ihr Sohn Ingo während seiner Studienzeit schon in der Mittagspause mit den Stammgästen das erste Bier trank. Dass er, nachdem er sein Studium aufgegeben hatte, begann, die Abendschichten zu bestreiten. Dass die ganze Familie noch immer unter einem Dach wohnt und sich bis heute die Arbeit hinter dem Tresen teilt. Ich hörte Geschichten aus dem Münchner Nachtleben der letzten Jahrzehnte und lernte eine Seite der Stadt kennen, die mir bis dahin völlig fremd war. Besonders vor dem Wegfall der Sperrstunde im Jahr 2004 war es nach Geschäftsschluss oft gemütlich. Wenn die Pohles die Außenbeleuchtung abgeschaltet und die Rollläden zugezogen hatte, waren nur noch die Stammgäste da. Jetzt war ich einer von ihnen. Manchmal gab es Geburtstagspartys, bei denen spät nach Mitternacht glänzende Limousinen im Hof vorfuhren, braungebrannte Männer mit Föhnfrisuren in Seidenblousons durch die Hintertür kamen und Rockbands auf provisorischen Bühnen spielten. Ich fühlte mich ins Kir-Royal-München versetzt – keine fünf Minuten von meinem Bett entfernt. Ich konnte im Playoutdri sogar mit dem schnurlosen Telefon meiner Wohnung telefonieren.
Ich lernte auch die Leute kennen, die Abend für Abend auf ihren Stammplätzen an der Bar saßen. Das Ehepaar, das irgendwann an den Stadtrand zog, weil es sich die immer teurere Miete nicht mehr leisten konnte. Den Ingenieur, der seit über 30 Jahren immer nach Feierabend auf genau ein Bier vorbeikommt und nur noch „Mister Siemens“ genannt wird.
Im Playoutdri verschwindet manchmal ein Gast, manchmal erscheint ein neuer, und wenn er regelmäßig kommt, nimmt er den Platz seines Vorgängers ein. Ganz wie von selbst und lautlos fügt er sich in die alten Strukturen. In der Kneipe passieren Veränderungen leise und langsam. Es herrscht ein anderes Zeitgefühl, das Interesse für die Gäste ist nur beiläufig. Viele sind von Anfang an dabei und kommen jeden Abend, auch wenn sie nur an der Bar fernsehen und kein Wort sagen. Andere sprechen erst nach Jahren miteinander, obwohl sie jeden Abend keinen Meter voneinander entfernt sitzen. Einmal ist ein Gast an der Theke tot umgefallen, ein anderer starb in seiner Wohnung im ersten Stock. Gefunden wurde er erst, weil er am Tresen vermisst wurde und die anderen Gäste nach einer Woche die Polizei riefen.
In den vergangenen Wochen bin ich öfter durch die Westerntüren gegangen als sonst. Denn die Zukunft des Playoutdri ist ungewiss. Von einer untragbaren Erhöhung der Miete ist die Rede und von einem Turnverein für Kleinkinder, der hier Ende September einziehen soll, „wenn nicht noch ein Wunder geschieht“, wie Ingo Pohle jeden Abend betont. „Der Schmerz kommt erst noch“, fügt seine Mutter dann hinzu.
Vergangenes Wochenende habe ich meinen Geburtstag im Playoutdri gefeiert. Hinter der Bar bediente die 72-jährige Barbara Pohle, wie sie es schon 1976 getan hat. Wahrscheinlich war es die letzte größere Party, die meine Stammkneipe erlebt hat. Seitdem ist die Stimmung gedrückt, die Gäste sind traurig und jedes „Tschüss“ am Ende des Abends ist von Abschiedsschmerz durchzogen.
Obwohl ich von dem 36-jährigen Bestehen der Kneipe nur elf Jahre miterlebt habe, werde auch ich schwermütig. Denn die Kneipe war immer da. Sie war da, als ich noch gar nicht geboren war, und sie war da, als ich in meine Wohnung gezogen bin. Wahrscheinlich war ich mit fast jedem Menschen, der mir in den vergangenen Jahren etwas bedeutet hat, mindestens einmal dort gewesen. Selbst wenn ich krank oder müde zu Hause liege, höre ich die Geräusche der Billardkugeln und habe die Gewissheit, dass da unten die Welt irgendwie in Ordnung ist. In Zukunft werden stattdessen wahrscheinlich tagsüber Kinder schreien – und die Straße wird abends ein bisschen stiller sein.
Text: juri-gottschall - Fotos: juri-gottschall