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Wohin des Weges?
Dass man in einer Großstadt wohnt, kann man tagelang vergessen. Man merkt es kaum beim Gang zum Bäcker, kaum wenn man an seinem Schreibtisch sitzt und lernt, ja nicht mal, wenn man abends in die Stammkneipe geht, wo doch auch immer annähernd die gleichen Leute warten. Man merkt es erst so richtig, wenn man morgens, sagen wir um acht Uhr, mit einer U-Bahn, sagen wir der U1, von der einen Endhaltestelle bis zur anderen fährt. An den beiden Endstationen sind die Wagen nahezu leer, aber dazwischen kann man kaum mehr stehen, so viele Menschen nutzen die Bahn für einen Zwischenspurt auf ihrem morgendlichen Weg. Jeder hat ein anderes Ziel an diesem Morgen, aber in der Bahn kreuzen sich die Wege und verlaufen eine Weile lang gemeinsam, um dann am Ende der Rolltreppe wieder komplett auseinander zu laufen. Das ist das Wegenetz einer Stadt, in dem jeder Bewohner jeden Tag eine neue Linie zieht. Aber wo gehen eigentlich alle hin? Wir haben für einen Tag unseren eigenen Weg aufgegeben und sind hinter jemandem hergegangen.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Die erste Passantin
Die erste Person ist eine blonde Frau zwischen 35 und 40. Sie ist der ideale Anfang, weil sie eine auffällige Bommelmütze trägt, der Bommel ist so groß wie ein guter Semmelknödel, den sieht man gut in der Menge. Sie steigt am Marienplatz aus, verharrt kurz vor der Rolltreppe, die nicht funktioniert, stapft dann, wie viele andere auch, im Storchengang nach oben. Zielstrebig geht sie im Zwischengeschoß auf den Ausgang am Kaufhaus Beck zu. An der Oberfläche bleibt die Frau stehen, dreht sich um. Eine Touristin? Es ist kurz nach halb zehn. Die Frau geht sehr langsam an den Schaufenstern entlang, bleibt an der Ecke zur Burgstraße wieder stehen und dreht sich noch mal um die eigene Achse.
Die Frau mit der Bommelmütze bewegt sich sehr zögerlich, geht aber doch weiter. Beim nächsten Stopp macht sie etwas, das seltsam altmodisch und verletzlich wirkt. Sie bindet sich einen Schuh neu, geht dazu langsam in die Hocke. Dann schlendert sie weiter, macht endlich ein paar Meter Strecke bis zur Ecke Althoffstraße. Vorsichtig lugt sie in die Gasse, geht weiter bis zu einem Hauseingang, an dem eine große Reihe Namensschilder angebracht ist, die sie ausgiebig studiert. Es sind alles Ärzte, es ist das Ärztehaus. Schließlich schaut sie auf ihre Armbanduhr und betritt das Haus. Ende.
Kennt man das Ziel eines Menschen, wird vieles klarer. Zum Arzt geht man nicht beschwingt und eilig, es ist ein besonderer Weg, man denkt bis zum letzten Schritt daran, vielleicht wieder umzukehren. Oder man hat einen Termin und ist zu früh dran. Zum Kindergeburtstag jedenfalls, geht man anders.
Die zweite Passantin
Hinter der Mariensäule geht sie vorbei. Ein Mädchen, vielleicht zwanzig, kurzer Pferdeschwanz, hübsch, grüner Mantel, knallroter Schal. Sie ist so jemand, bei dem man immer heimlich nachdenkt, wie es wäre, sie einfach anzusprechen und zu fragen, was sie vorhat. Macht man natürlich nie. Sie geht unheimlich schnell, schräg über den Marienplatz und hinein in die Fußgängerzone. Sie rast richtig, ein Schritt schneller pro Sekunde und sie würde rennen. So aber sieht es aus, als wäre sie nur sehr gut aufgezogen.
Auf einmal ist der rote Schal verschwunden. Irgendwo in den Arkaden auf der linken Seite. Es ist noch nicht viel los an diesem Morgen gegen halb elf, deshalb ist es besonders schwierig, sich einzugestehen, dass Menschen zwischen zwei Arkadenbögen einfach verschwinden können. Da blitzt es wieder rot. Das Mädchen steht bei H&M im Schaufenster und zerrt an einem Kleiderständer. Ein Glück, dass das alles direkt im Schaufenster geschieht, so kann man beobachten, wie sie ein Kleid herunternimmt, und sich anhält, erst an sich herunterschaut und dann zum Spiegel dreht. Das Kleid ist Apricotfarben und sieht aus, als könnte man darin Flamenco tanzen. Einen Wimpernschlag bleibt sie ganz ruhig stehen und lächelt sich an. Dann hängt sie das Kleid mit Schwung wieder an den Haken, stürmt aus dem H&M und eilt weiter.
Die ganze Kleid-Sequenz hat keine zwei Minuten gedauert. In einer Minute ist sie beim Stachusbrunnen, runter ins Untergeschoß quer durch, drüben wieder raus, rein in den Kaufhof. Noch ein Kleid? Nein. Ihr Schritt wird langsamer, sie schaut nicht links und rechts, knöpft dafür ihren Mantel auf, grüßt eine Angestellte an der Kasse und verschwindet schließlich hinter einer unscheinbaren Tür beim Reisebüro. Ende.
Wenn man beschließt jemandem zu folgen gibt man seinen eigenen Weg auf. Man hinterlässt nichts mehr, sondern bewegt sich nur im Fahrwasser eines Fremden. Ein wenig ist es, als hätte man seine eigene Funktion als Stadtbürger aufgegeben, ähnlich wie ein Auto das abgeschleppt wird.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Der dritte Passant
Am Nachmittag soll jemandem gefolgt werden, für den man sich eigentlich auf den ersten Blick nicht interessiert. Jemand Unauffälliges. Die Wahl fällt am Rindermarkt auf einen älteren Herren in einer dunklen Jacke, mit Hut. Er ist ziemlich groß, in der Hand hält er eine schwarze Aktentasche, zu klein für einen Laptop. Am Espresso-Eck biegt er ab und geht Richtung Sendlinger Straße, quert ohne Ampel, winkt ein ankommendes Auto bestimmt vorbei und setzt dann seinen Weg fort. Vorbei am Bettler vor dem Konen-Kaufhaus, vorbei an Beate Uhse, er könnte ein Politiker sein, so wie er die Entgegenkommenden kurz aufmerksam mustert und dann über ihre Köpfe hinweg sieht.
Vor ihm ist ein Tumult, eine kleine Gruppe singender Hare-Krischna-Menschen kommt auf ganzer Gehwegbreite entgegen. Was macht er? Dreht sich mit dem Rücken zu den Singenden, lässt sie vorbeiziehen während er so tut, als würde er die Asamkirche bewundern. Dann geht er sofort weiter. Smarter Move! Vor einem geparkten Geländewagen bleibt er stehen. Sein Auto? Nein, er sieht sich den Wagen nur nachdenklich an, geht über die Straße und ohne einen Moment des Zögerns in die Metzgerei. Dort ist fast nichts los, er kauft an der heißen Theke einen Teller mit etwas, das aussieht wie Currywurst ohne Pommes.
Wieder draußen – acht Minuten hat die Mahlzeit gedauert – spaziert er weiter zum Sendlinger Tor und bleibt mitten unter dem Torbogen stehen. Die Arme hinter dem Rücken verschränkt steht er dort, Tasche am Boden zwischen seinen Füßen, wippt auf der Stelle. Worauf wartet er? Es ist fünf nach Vier, als ein junger Mann mit Brille vom U-Bahn-Ausgang auf ihn zusteuert, kurz und lässig die rechte Hand zu einem Minimal-Gruß abwinkelt. Der ältere Herr nimmt seine Tasche, öffnet sie, übergibt eine kleine Plastiktüte mit Inhalt an den Jungen, lächelt jetzt. Zusammen gehen sie weiter, Richtung Kreuzung, zwischen ihnen ist mehr Luft als bei einem Liebespaar und weniger als bei Geschäftspartnern.
Text: fabian-fuchs - Fotos: Katharina Bitzl