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Wo es weh tut
Es ist Montagabend, 21 Uhr, und die Kundschaft von Maria Vogel trinkt sich warm. Im Null-13, einem Studentenclub im Keller eines Wohnheims in Zwickau, stehen ein paar Dutzend Studentinnen und Studenten herum, spielen Billard oder lehnen an der Bar. Heute ist „tschechischer Tag“, es gibt Budweiser vom Fass. Maria Vogel nippt lieber an einer Apfelschorle. Sie ist nicht zum Vergnügen hier. Die 29-Jährige sieht mit ihren Sneakern, dem schwarzen T-Shirt und dem kleinen Stecker in der Nase selbst aus wie eine Studentin, aber das täuscht. In Wirklichkeit ist sie Deutschlands erste Streetworkerin, deren Zielgruppe angehende Akademiker sind. „Viele Leute müssen sich erst ein bisschen Mut antrinken, bevor sie sich trauen, mich anzusprechen“, sagt sie.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Probleme lösen an der Bar: Seit Maria miterlebt hat, wie ein Student wegen seiner Probleme zusammengebrochen ist, will sie helfen.
Zwei Stunden vorher. Maria hängt ein selbst bemaltes Poster und eine Wäscheleine neben der Bar auf und erklärt mit bunten Pappkärtchen dem Team des Null-13 ihre Hilfsangebote. Die Studenten, die den Club ehrenamtlich für die Kommilitonen und Zimmernachbarn organisieren, sind wichtig für Maria. Sie stehen abwechselnd zwei bis drei Mal pro Woche hinter den Zapfhähnen und kommen mit Leuten in Kontakt, die Probleme haben, im Studium, im Job oder in der Liebe. Seit Anfang des Jahres können sie diese Leute zu Maria schicken. Wenn sie mal nicht selbst da ist.
Aber heute ist sie da. Sie sitzt an der Bar, es ist 21.30 Uhr, als ein Mädchen sie an die Schulter tippt. „Eine Freundin hat mir erzählt, du kannst bei Lampenfieber weiterhelfen?“, fragt sie. Sie ist im ersten Semester. „Ich hab morgen ein Job-Bewerbungsgespräch und bin meganervös.“
„Würde es dir vielleicht helfen, wenn wir deine Bewerbung mal zusammen durchgehen?“, fragt Maria.
Das Mädchen nickt. Maria geht mit ihr nach oben, ins Erdgeschoss des achtstöckigen Wohnheimblocks. Dort, gegenüber vom Bafög-Amt, hat Maria ihr Büro. Dort kann sie in Ruhe reden.
Junge Akademiker – diese Gruppe galt bislang eher nicht als besonders bedürftig für die Hilfe von Sozialarbeitern. Bisher kümmern sich Streetworker in Deutschland vor allem um Drogenabhängige oder Jugendliche in sogenannten sozialen Brennpunkten von Großstädten. Bisher – denn neue Studien zeigen, dass Studenten während ihrer Zeit an den Hochschulen immer mehr und immer vielfältigere persönliche und soziale Probleme bekommen. Im vergangenen Jahr ergab eine repräsentative Untersuchung des Deutschen Studentenwerks, dass sich beinahe jeder zweite Bachelor-Student erschöpft und überfordert fühlt. Rund 44 Prozent klagen über psychosomatische Beschwerden. Es folgen Angst, Lernschwierigkeiten, geringes Selbstwertgefühl und Abhängigkeiten. Knapp ein Drittel der Befragten klagte über Probleme bei der Studienfinanzierung. 13 Prozent gaben an, mit ihren Schulden nicht zurecht zu kommen, und immerhin fünf Prozent berichteten von Alkohol- oder Drogenabhängigkeit.
Für solche und ähnliche Schwierigkeiten gibt es eigentlich an fast allen Hochschulen psychologische und soziale Beratungsstellen. Doch die erreichen oft nicht ihre Zielgruppe. Von den 2,5 Millionen deutschen Studenten im Jahr 2012 gingen nur 3,3 Prozent zu einer Sozialberatung. Psychologische Hilfe nahmen nur 1,3 Prozent in Anspruch. „Besonders die psychologische Beratung suchen viele Studenten erst auf, wenn ihre Schwierigkeiten massiv geworden sind“, sagt Astrid Schäfer, die beim Deutschen Studentenwerk für Beratungsangebote zuständig ist. „Viele sagen dann, dass ihnen vorher wegen eng gepackter Stundenpläne die Zeit gefehlt hat. Oder sie dachten, ihre Probleme seien gar nicht so schlimm.“
Wohin es führen kann, wenn sich jemand bei einem dringenden Problem nicht meldet, hat Maria Vogel vor zwei Jahren selbst erlebt, als ein 25-jähriger Student vor ihren Augen in einem der Zwickauer Studentenclubs zusammenbricht. Im Krankenhaus kommt nach und nach ein monatelanges Drama ans Licht. Der wohlhabende Vater des Studenten hatte seinem Sohn nach einem Streit die finanzielle Unterstützung gestrichen. Der hatte noch nie im Leben jemanden um Hilfe gebeten und erzählte auch jetzt niemandem von seinem Problem. Nach ein paar Monaten hatte er einen Berg Schulden, war ausgehungert und am Ende seiner Kräfte.
Maria Vogel beginnt Hilfe für den Studenten zu organisieren. Damals studiert sie selbst noch. Die Unterstützung von Menschen in schwierigen Lebenslagen gehört eigentlich nicht zum Stundenplan ihrer Ausbildung, sie studiert Gesundheitswissenschaften. Weil sie zuvor aber eine Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin gemacht hat, liegt ihr soziale Arbeit am Herzen. Als Mitglied der Kulturkommission des Studentenwerks kennt sie die Strukturen an der westsächsischen Hochschule in Zwickau gut. Deswegen weiß Maria, wen sie in diesem Fall ansprechen kann.
Sie sucht nach einer Schuldenberatung und einer Psychotherapie für den 25-Jährigen. Inzwischen ist es dem angehenden Ingenieur gelungen, mit Hilfe der Unterstützer sein Leben in den Griff zu bekommen. Im April hat er sein Diplom gemacht. Aber Maria ist sicher: „Es wäre leichter gewesen ihm zu helfen, wenn wir schon eher mitbekommen hätten, wie es ihm geht.“
Weil Maria damals häufiger die Erfahrung macht, dass sich Leute mit Problemen bei ihr, aber nicht bei den offiziellen Beratungsstellen melden, stößt sie mit Hilfe der Studentenvertretung bei den Verantwortlichen in Verwaltung und Studentenwerk einen Gedanken an: Eigentlich wäre es sinnvoll, wenn jemand die Studenten dort besucht, wo sie in ihrer Freizeit sind. Eine Art Sozialarbeiter, wie es sie bereits an vielen Schulen gibt. Dort hat die Bundesregierung die Neueinrichtung solcher Stellen im Rahmen des Bildungs- und Teilhabepakets mit insgesamt 1,2 Milliarden Euro gefördert.
Hilfe bei Bewerbungsstress und Liebeskummer
Eine Arbeitsgruppe berät über den Plan. Maria Vogel beendet ihr Studium und zieht wegen Liebe und Job nach Leipzig. Als sie im Sommer 2013 nach einer neuen Stelle sucht, sind in Zwickau gerade die Planungen beendet. Das Studentenwerk Chemnitz-Zwickau hat eine halbe Stelle für eine Streetworkerin ausgeschrieben. Maria bewirbt sich – und bekommt den Job.
Im Null-13 ist es 23 Uhr. Ein bärtiger Maschinenbauer setzt sich zu Maria an die Bar. Er fängt stockend an zu erzählen. Seine Ex-Freundin, die sich vor zwei Jahren von ihm getrennt hat, will ihn plötzlich zurück und hat ihn ins Gefühlschaos gestürzt. Er wisse nicht mehr, sagt er, was er gerade empfinde. Maria hört ihm geduldig zu. Sie versucht nicht, ihm eine Lösung zu präsentieren. Denn ihre Erfahrung ist, dass sie Leuten am meisten helfen kann, wenn sie gemeinsam mit ihnen überlegt, was sie eigentlich brauchen. „Oft ist die Lösung schon in den Leuten selbst drin“, sagt sie. „Sie brauchen einfach jemanden, der ihnen den Spiegel vorhält.“
Kurz vor Mitternacht ist Marias Arbeitstag vorbei. Er war lang. Knapp 17 Stunden war sie heute im Einsatz. Neben den Gesprächen über Liebeskummer und Bewerbungsstress hat sie sich um ein Tutorium für ein paar Fahrzeugtechnik-Ingenieure gekümmert, die nicht mit dem Prüfungsstoff hinterherkamen. Sie hat an einer Dienstberatung mit ihrer Chefin teilgenommen und mit anderen Beratungsstellen in der Stadt telefoniert. „Eigentlich müsste ich gleich morgen wiederkommen“, sagt sie, „um mit den Leuten, die heute Abend bei mir waren, weiterzumachen.“ Aber weil sie nur eine halbe Stelle hat, ist das zeitlich nicht machbar. Vorerst. Zwei Jahre soll der Modellversuch Campus-Streetwork dauern. Dann erst wird die Stelle möglicherweise aufgestockt.
Maria verstaut ihr Präsentationsmaterial in ihrer Tasche, verabschiedet sich von den Studenten hinter der Bar. Sie geht raus, setzt sich in ihr Auto und fährt davon in die Nacht. Für ihren Heimweg nach Leipzig braucht sie eine knappe Stunde. Zeit, dir ihr beim Abschalten hilft.
Text: clemens-haug - Foto: clemens-haug