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Wo du mal Zuhause warst

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„Eigentlich will ich immer nur nach Hause“, sagt Julian. Seit zwei Monaten wohnt der 19-Jährige in Aachen, 200 Kilometer von seinem Geburtsort entfernt. Er studiert Wirtschaftsingenieurwesen, sein Wunschfach. Das Studium ist gut, es fordert ihn, aber es ist gut, und die WG mit den ehemaligen Mitschülern funktioniert auch. Trotzdem setzt er sich jeden Freitag Nachmittag in den Zug und fährt drei Stunden lang nach Südlohn im Münsterland, nach Hause. Zurück nach Aachen geht es frühestens Sonntag Abend, manchmal auch erst montags in der Früh. „Viele Leute freuen sich, wenn sie ausziehen“, sagt er. „Bei mir ist es genau anders rum.“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Das Elternpaar Schmeing Seinen Eltern hat das den Abschied nicht erleichtert. „Die ersten Tage waren schrecklich“, erinnern sich Ingrid und Alfons Schmeing. Julian ist ihr einziger Sohn. In der Wohnung, wo sich die drei sonst gern mal gegenseitig auf die Schippe nahmen, wenn einem von ihnen langweilig war, ist es jetzt ruhig und irgendwie nicht mehr so lustig wie noch vor ein paar Wochen. „Ich arbeite im Außendienst für einen Gartenbaubetrieb“, erklärt Alfons Schmeing, „dadurch bin ich viel unterwegs und merke das nicht so stark.“ Doch seine Frau ist Hausfrau und hat auf einmal sehr viel Zeit. „Ich lese jetzt viel mehr als früher, ich besuche meine Schwester häufiger. Und ich hätte gern wieder einen Job“, sagt sie. Elke Selaskowski arbeitet werktags von acht bis eins bei einem Steuerberater. Seit ihre Tochter Lisa, 20, vor einigen Wochen als letztes von zwei Kindern ausgezogen ist, könnte sie auch locker noch nachmittags ins Büro gehen. „Plötzlich ist da so viel Zeit, die man füllen muss“, sagt sie. Ihr Mann arbeitet als Elektrotechniker und ist oft tagelang unterwegs. Dann ist ihr einziger Gefährte der Hund. „Der bekommt jetzt extra lange Spaziergänge“, sagt Elke Selaskowski. „Aber neuerdings bellt er fremde Hunde an. Wahrscheinlich vermisst er Lisa genauso wie ich.“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Mutter Selaskowski Mit dem Vermissen ist das so eine Sache. Wie Julian studiert auch Lisa in Aachen, sie kommt aber längst nicht mehr jedes Wochenende nach Hause. Sie anzurufen, das macht ihre Mutter nicht. „Ich warte lieber, bis sie sich meldet – dann weiß ich, sie hat jetzt Zeit und Lust zu reden.“ Noch greift Lisa fast jeden Tag zum Hörer. „Ich könnte zwar auch nur alle drei oder vier Tage anrufen“, sagt sie, „aber Mama freut sich doch immer so.“ Für Lisa selbst war der Auszug nicht so schmerzvoll. Das Studium, die Stadt, die Leute, alles war neu und aufregend. Jetzt freut sie sich, wenn ihre Mutter sie in Aachen besucht. „Dann gehen wir zusammen Kaffee trinken in der Stadt, das haben wir früher nie gemacht“, erzählt sie. Stattdessen gab es gemeinsame Mittagessen. Sie waren so etwas wie der Fixpunkt der Familie, zu dem man sich traf, den Tag besprach. Jetzt isst Elke Selaskowski mittags manchmal gar nichts. „Es macht einfach keinen Spaß, nur für mich allein zu kochen.“ Für Julians Familie war das Abendbrot das feste Ritual, das jeden Tag um Punkt sechs Uhr stattfand. Seit der Sohn ausgezogen ist, nehmen seine Eltern es damit nicht mehr so genau. „Wir müssen wieder Brötchen kaufen“, sagt Alfons Schmeing. „Sonst machen wir bloß auf die Schnelle was und essen vor dem Fernseher . . .“ Er hätte nie gedacht, dass es ihm so schwer fallen würde, Julian sonntags zum Bahnhof zu bringen. „Ich muss dann immer noch jedes Mal schlucken“, gesteht er. „Dabei sehen wir uns doch schon in einer Woche wieder!“ Trotzdem würde er seinem Sohn nie sagen, er solle zurück nach Hause kommen – auch, wenn der das im Moment vielleicht gern hören würde. „Julian hat schon immer lange gebraucht, um sich an ein neues Umfeld zu gewöhnen“, sagt seine Mutter. „Das wird schon.“ Und man weiß nicht genau, wem sie damit nun Mut zuspricht – ihrem Sohn oder sich selbst.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Das Elternpaar Günther Elke und Bernward Günther wären schon froh, ihre Kinder überhaupt mal wieder zu sehen. Ihr Sohn Jonas, 22, verließ schon vor Jahren das Elternhaus im westfälischen Borken, um im 600 Kilometer entfernten Ingolstadt zu studieren, und die beiden Töchter zogen dieses Jahr fast gleichzeitig aus: Johanna, 16, verbringt ein Schuljahr in Argentinien und Theresia, 19, studiert in Würzburg. Anfangs haben die Günthers gar nicht so recht gemerkt, dass jetzt alle Kinder aus dem Haus sind. „Wir waren ja ständig mit organisatorischen Dingen beschäftigt“, sagt Elke Günther. „Wohnung suchen, streichen, einrichten.“ Dafür haben sich beide extra frei genommen, sind mit Theresia nach Bayern gefahren. „Es tat gut, ihr neues Leben mitgestalten zu können“, sagt Bernward Günther. „Bei unserer Jüngsten war das so ein harter Schnitt, sie ging durch die Sperre am Flughafen und war weg. Wir wussten nicht, wo sie landen würde, ob sie sich wohl fühlen würde.“ Theresia dagegen habe man das während der Zeit in Würzburg gleich angesehen. Trotzdem fiel es vor allem ihrem Vater ganz schön schwer, sie gehen zu lassen. „Das ist wie eine Trauer, über die ich inzwischen zwar hinweg bin, die aber immer noch irgendwie da ist“, sagt er. Doch dann ist da ja auch noch die neue Tochter: Für Johanna, die nach Argentinien flog, kam Flora, eine Austauschschülerin aus Brasilien. Sie sorgt dafür, dass der Alltag im Hause Günther nicht so sehr aus den Fugen gerät, wie er es sonst vielleicht täte. Die Eltern stehen noch zur gleichen Zeit auf wie früher, Elke Günther kocht weiterhin Mittagessen und bespricht die üblichen Schulprobleme von Klausur bis Klassenfahrt – eben mit Flora. „Für mich dämpft Flora das Ganze noch ab“, sagt sie. „Trotzdem ist es nicht das Gleiche. Ich würde sie nie beim Joggen begleiten oder abends mit ihr im Bett liegen und über Gott und die Welt reden, wie ich es mit Theresia gemacht habe.“ Das vermisse sie am meisten. Theresia geht es ganz ähnlich. Sie ist jetzt in Würzburg und sagt: „Ich habe hier niemanden, mit dem ich über wirklich alles reden kann. Als es mir früher schlecht ging, wusste ich, wenn ich mit meinen Eltern darüber spreche, geht es mir nachher bestimmt besser.“ Aber das funktioniert nicht so gut übers Telefon. „Manchmal lege ich mich dann lieber ins Bett und hoffe, dass es am nächsten Morgen vorbei ist.“ Theresia will nicht, dass ihre sich Eltern Sorgen machen. Nachdem sie bei ihrem Auszug noch mal deren geballte Fürsorglichkeit mitbekommen hat, scheint es, als fühle sie sich nun auch umgekehrt verantwortlich für ihre Mutter und ihren Vater. Ganz so wie Lisa, die fast täglich anruft, um ihrer Mutter eine Freude zu machen. „Das ist am Anfang ganz normal“, sagt der Familienberater Jan-Uwe Rogge, der zahlreiche Erziehungsratgeber verfasst hat. „Wichtig ist bloß, dass daraus kein Druck auf die Kinder entsteht, Kinder zu bleiben.“ Um das zu verhindern, müssten die Eltern ihre Beziehung ganz neu strukturieren. „Dann werden aus Eltern wieder Partner, aus Mutter und Vater werden Mann und Frau.“ Theresias Eltern haben zwar nicht das Problem, dass sie auf einmal zu viel Zeit hätten. „Wir könnten eher noch mehr gebrauchen“, lacht Elke Günther. Trotzdem merke man, dass es da „etwas Neues gibt, das zu füllen ist.“ Im Moment versucht sie, ihren Mann zu einem Tanzkurs zu überreden. Die beiden wollen auch bald einen Kurzurlaub machen, einfach mal so, zu zweit und ohne auf irgendwelche Ferien- oder Prüfungstermine achten zu müssen. „Ich merke auch, dass es den Kindern wichtig ist, dass wir so etwas machen“, sagt Elke Günther. „Wenn die hören, dass ich im Kino war, sind sie immer ganz begeistert.“ Oft passiere die Umstrukturierung einer Partnerschaft aber auch ganz unbewusst, weiß Jan-Uwe Rogge. So ordnen manche Eltern statt ihrer Beziehung erst einmal ihre Wohnungen neu: Bei Julians Eltern haben zwei weiße Sessel einen neuen Platz bekommen, und das Ehepaar Selaskowski hat gleich im ganzen Haus die Möbel verschoben. Nur die Kinderzimmer bleiben stets unangetastet. Oft haben die früheren Bewohner nicht einmal ihre Betten mitgenommen. „Ich glaube, wenn Papa ganz übel schnarcht, ist Mama froh, dass sie in meinem Zimmer schlafen kann“, sagt Julian. „Vielleicht bügelt sie jetzt auch manchmal da.“ Doch das würde Ingrid Schmeing nie einfallen. „Um Gottes Willen“, sagt sie. „Das ist Julians Zimmer und wird es auch immer bleiben. Er soll wissen, dass er jederzeit dorthin zurückkehren kann.“ Jan-Uwe Rogge plädiert dafür, aus dem alten Kinderzimmer ein Gästezimmer zu machen. „Dann ändert sich auch das Verhalten gegenüber dem Kind. Es wird ein gern gesehener und gehegter Gast“, sagt er. Bei Julian und Lisa ist das auch jetzt oft schon so: Wenn Julian nach Hause kommt, kriegt er sein Leibgericht zu essen, und Lisa und ihre Mutter streiten viel weniger als früher. Die gemeinsame Zeit ist wichtiger geworden – zu wertvoll, um sie an eine belanglose Auseinandersetzung zu verschwenden. Das hat auch Theresia gemerkt, als ihre Eltern sie vor ein paar Wochen besuchten. „Ich habe diese gemeinsamen Stunden viel mehr genossen als früher“, sagt sie. Umso mehr freut sie sich darauf, zu Weihnachten endlich wieder nach Hause zu kommen. Die Tür ihres alten Zimmers steht jedenfalls offen. „Sperrangelweit“, betonen ihre Eltern.

Text: eva-schulz - Fotos:privat, Illustrationen: Katharina Bitzl

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