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Wisch und weg

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Ich wusste über Anna nichts. Außer dass sie 26 war, honigblonde Haare und eine lange, schmale Nase hatte, die ihr eine feenhafte Schönheit verlieh. Sie trug ein hellblaues Jeanshemd mit Bubikragen. Ich sah den Schatten, den ihre Wangenknochen symmetrisch auf ihr Gesicht legten. Ich schob Annas Foto nach rechts. Mein Herz klopfte drei besonders feste Schläge. Dann vibrierte mein Handy: "It’s a match!"

Ich hatte seit zwei Tagen eine App auf meinem Smartphone, über die seit Herbst alle meine Bekannten reden. Vor allem die Singles. Aber auch Freunde mit festen Partnern gucken fasziniert, wenn sie davon hören. Tinder gilt als die oberflächlichste Dating-App der Welt. Es gibt dort nur Fotos, Vornamen, Alter und Entfernung. Man entscheidet anhand von Äußerlichkeiten, ob man jemanden interessant findet, der gerade in der Nähe ist. Ja? Dann wischt man das Foto rechts. Nach links wischen heißt: Nein danke, der Nächste, bitte.

Was es bei Tinder nicht gibt: Steckbriefe, Hobbies, Sternzeichen. Auch keine Algorithmen wie bei den großen Datingportalen, die mögliche Übereinstimmungen und Erfolgschancen errechnen. Wer sich bei Tinder anmeldet, muss nicht in Fragebögen erklären, ob er Langschläfer ist, Katzen oder Opernbesuche mag. Eine schöne Nase und ein guter Hemdkragen reichen. Wenn zwei User sich gegenseitig nach rechts wischen, gibt es einen "Match". Sie dürfen dann miteinander chatten.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ja, nein, nein, ja: Tinder funktioniert wie ein Rundgang im Club.

Die feenhafte Anna war nicht mein erster Treffer. Der erste war Susanne. Wegen ihres Schmollmunds hatte ich ihr Foto nach rechts geschoben. "Hi" schrieb ich, der beste Anmachspruch, der mir einfiel. Susanne hat nie geantwortet. Der zweite Treffer war Carolin, sie zeigte auf ihrem Foto Lachgrübchen und wunderschöne große Zähne. Diesmal hielt ich mich zurück, wartete, dass sie den ersten Satz schrieb, aber der kam nie, was mich auch nicht weiter störte, weil mich Tinder kurz darauf mit Laura verband.

An Laura interessierten mich vor allem die zwei sehr vollen Brüste, die sie angenehm unprätentiös unter einem Shirt mit abgeschnittenen Ärmeln präsentierte. Wir chatteten einen Abend, dann merkte ich, dass sie die beste Freundin der Exfreundin eines meiner besten Freunde war. Ich schrieb ihr nicht mehr, die Trennwand zur echten Welt war mir zu dünn. Und schließlich wartete einen Klick entfernt ein endloser Stapel weiterer Fotos mit weiteren Brüsten. Außerdem war in der Zwischenzeit Anna aufgetaucht. Sie schrieb mir, ihr erster Satz war: "Match!" Wir verabredeten uns in einem Café.

Tinder funktioniert wie ein Rundgang durch einen Club: Man guckt, wer da ist, und entscheidet im selben Augenblick, wer einem gefällt. Wenn jemand zurücklächelt, startet man ein Gespräch. Wenn man sich langweilt, geht man weiter. Es ist das Prinzip von Speed-Dating, zu Ende gedacht: Kennenlernen wird destilliert auf das allererste Gefühl im Bauch, bevor auch nur ein Wort gesagt wird.

Nach drei Tagen war ich süchtig. Ich spielte mit der App, wenn ich auf die U-Bahn wartete, im Aufzug stand oder auf dem Klo saß. Ich benutzte Tinder an Heiligabend bei meinen Eltern und wenn ich an der Bar wartete, dass eine Freundin von der Toilette zurückkam. Wenn mein Handy vibrierte, weil ich einen neuen Treffer hatte, griff ich danach, selbst wenn ich gerade in einer Konferenz saß oder Fahrrad fuhr.

Oberflächlich? Von wegen: Ein Bikini-Foto vor dem Badspiegel verrät mehr als jeder Fragebogen.


Tinder, auf Deutsch "Zunder", wurde vom US-Datingportal Match.com entwickelt, es ist sozusagen deren Einstiegsdroge, um an Nachwuchs zu kommen. Als Bild-Chefredakteur Kai Diekmann vergangenes Jahr ein paar Monate im Silicon Valley verbrachte, erzählte er zwischendurch dem Spiegel von der App, die er dort entdeckt hatte – "die verrücktesten Dinger kommen aus L.A.", sagte er. Im Herbst feierte dieses Ding seinen ersten Jahrestag. Zu diesem Zeitpunkt verknüpfte Tinder täglich zwei Millionen Matches, insgesamt waren 13 Milliarden Fotos hin- und hergewischt worden. Es ist die am schnellsten wachsende Dating-App der Welt.

Kein Wunder. Tinder fühlt sich echter an als andere Flirtseiten, weil Vornamen und Fotos automatisch vom Facebook-Account eingelesen werden, dem Goldstandard der Authentizität im Netz. Und während Datingportale wie Parship oder Friendscout mit psychometrischer Genauigkeit werben, folgt Tinder dem natürlichen Instinkt von Singles: sich einfach mal umsehen. Ja, nein, ja, nein. Ein namhafter Psychologie-Professor schrieb vor ein paar Tagen im britischen Guardian über Tinder: "Es stellt sich gerade heraus, dass die Menschen sehr viel oberflächlicher sind, als Psychologen dachten."

Wir klicken lieber in einer Minute durch die Fotos von 30 Menschen, als 30 Minuten lang das Profil eines potenziellen Partners zu lesen. Natürlich ist das oberflächlich, aber es ist naiv, das schlimm zu finden: Wer sich auf Facebook "Katharinchen" nennt, ein Foto mit Maßkrug hochlädt oder sich im Bikini vor dem Badspiegel in Szene setzt, transportiert wichtige Teile seiner Persönlichkeit ungefilterter als in jedem Fragebogen. Warum sollte man sich mit Lieblingsbands oder Lebensmottos befassen, wenn man weiß, dass man Mädchen mit Dreadlocks oder Männer mit Schablonenbart ohnehin nicht mag?

In drei Monaten hat mir die App 38 Matches vorgeschlagen. Ich startete 38 unverbindliche Unterhaltungen mit fremden Frauen aus meiner Nachbarschaft. Drei Viertel davon dauerten nur zwei Nachrichten lang. Meist weil ich Menschen, die Zwinker-Emoticons verwenden, kaum noch ernstnehmen kann, selbst wenn sie schwindelerregend tolle Augen haben. Oder weil sich herausstellte, dass Antje zwar offenbar im Besitz des schönsten Lächelns von Schwabing ist, aber noch nie was von Ironie gehört hat, und Lena zwar hinreißende Tätowierungen auf den Handgelenken trägt, aber grundsätzlich "ned" schreibt, wenn sie "nicht" meint. Hätte ich Antje oder Lena in einer Bar getroffen und angesprochen, wäre ich irgendwann aufs Klo geflüchtet.

Getroffen habe ich übrigens nur Anna. Nach zwei Gläsern Weißwein mochten wir uns. Seither sehen wir uns lose alle paar Wochen. Vielleicht frage ich sie bald mal nach ihrem Nachnamen.


Text: jan-stremmel - Illustration: Katharina Bitzl

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