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Wir sind Viele
Natürlich, da passiert es wieder. Der ältere Herr in der dritten Reihe hebt die Stimme bedeutungsschwanger an: „Sind diese Leute nicht . . . “ Er betont das letzte Wort fast anklagend: „ . . . abhängig?“ Klar, die Frage musste kommen. Sie wird eigentlich jedes Mal gestellt, wenn wir unsere Studie zu Online-Spielern präsentieren. Denn für Nicht-Spieler ist das Online-Gaming eine ziemlich unverständliche Freizeitbeschäftigung. Wenn man einem durchschnittlichen Publikum auf einer Vortragsveranstaltung erzählt, dass Onliner im Mittel rund 20 Stunden pro Woche für das Spielen aufwenden, dann sorgt das für Verwunderung, manchmal auch für ehrliches Entsetzen. Diese Reaktion ist verständlich. Nicht-Spieler stellen in der Gesamtbevölkerung immer noch die Mehrzahl. Zwar hat immerhin gut ein Drittel der Bevölkerung schon mal Computer gespielt – der Rest aber eben noch nie. Und die soziodemographische Verteilung ist immer noch unausgewogen. Insbesondere Ältere sind seltener unter den Spielern zu finden als junge und jugendliche Menschen. Ergo: Vielen Erwachsenen sind Computerspiele fremd. Virtuelle Spielwelten – für die meisten immer noch terra incognita! Die Spieler sind mitten unter uns Insofern kommt man sich als Forscher manchmal tatsächlich wie ein Ethnograph im frühen 20. Jahrhundert vor. Und ähnlich diesem Kulturforscher wird man mit Vorurteilen und Gerüchten über den seltsamen Stamm der Computerspieler konfrontiert: In populärer Sichtweise sind Gamer grundlegend jugendlich, männlich, isoliert und in ihrer sozialen Entwicklung nachhaltig gestört. Viele Medienberichte unterstützen diese Differenz zum ‚Normalen' zudem mit sensationsheischenden Nachrichten: Der Onliner, der nach tagelangem Dauerzocken tot zusammenbricht, oder der World of Warcraft-Spieler, der wegen eines gestohlenen virtuellen Schwerts zum echten Mörder wurde – nur zwei der Beispiele, die ein klischeehaftes Bild prägen. Und bei fast jedem Amoklauf wird inzwischen reflexhaft danach gefragt, ob nicht Ego-Shooter entscheidenden Einfluss auf den Täter hatten. Dabei sind Computerspieler weder Fremde, noch Outsider, noch eine klar abgegrenzte Gruppe innerhalb der Gesellschaft: Sie sind nach den Erkenntnissen aktueller Studien mitten unter uns. Zwar gibt es immer noch viele jugendliche, männliche Spieler, doch bei Älteren und Frauen sind inzwischen starke Zuwächse zu verbuchen: Ein Drittel der Spieler ist weiblich und ein Fünftel ist im Alter zwischen 45 und 60. Computerspielen wird damit zunehmend zu einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen. Die soziale Entwicklung scheint hier allerdings schneller zu sein als die Veränderung populärer Klischees. Rentnerinnen im Online-Casino Bei unseren eigenen Studien zu Online-Gamern bestätigte sich, dass das Bild viel bunter als die düster-monochrome Darstellung in der öffentlichen Diskussion ist. Wir fanden spielende Rentnerinnen, die ihr Glück in Online-Casinos versuchen; Manager, die auf Geschäftsreise vom Hotel aus Raumschiff-Flotten im Browser-Spiel Ogame organisierten; oder Väter, die gemeinsam mit ihren jugendlichen Söhnen die Welt Azeroth im Rollenspiel World of Warcraft durchstreiften. Es zeigte sich auch, dass die generelle Vorstellung vom vereinsamten Einzelgänger falsch ist: Viele Spieler führen Freundschaften aus dem virtuellen Leben auch im realen Leben fort, und sie bewerten die Online-Interaktion nicht als ‚minderwertig' gegenüber der Offline-Realität. Online-Computerspiele sind soziale, kommunikative Erlebnisräume. Besonders beeindruckend fanden wir dabei das Beispiel eines körperbehinderten Spielers, dem Online-Rollenspiele ermöglichen, ohne Ansehen seiner Behinderung andere kennen zu lernen und mit ihnen die virtuellen Welten zu Fuß zu erkunden – im realen Leben ist dieser Spieler an einen Rollstuhl gefesselt. Und obwohl diese Erfahrung vom Spieler selbst als ‚befreiend’ erfahren wird, hat auch er damit zu kämpfen, dass die Umwelt das Spielen als negativ bewertet, als Gegenstück zum Realen, als Verlust an ‚echter' Erfahrung. Hier findet sich auch die Frage nach der ‚Abhängigkeit' wieder: Nimmt das Virtuelle vom Realen etwas weg, verdrängt es das ‚echte' Leben? Mit einigen Spielern haben wir längere Gespräche geführt, um herauszufinden, wie sie das Spielen in den Alltag einbauen. Gerade die Älteren müssen ihr Hobby mit beruflichen und familiären Interessen in Einklang bringen. Interessanterweise war die Hauptschwierigkeit für diese Befragten aber gar nicht die fehlende Zeit, sondern vor allem der Mangel an gesellschaftlicher Akzeptanz. Für ältere Computerspieler gibt es eben keine passende Schublade. Sie können mit ihren Partnern, Freunden und Bekannten oft nicht über ihre Freizeitvorlieben sprechen, ohne unangenehm aufzufallen: Fußballspielen im Sportverein ist voll akzeptiert, mit seiner Gild in World of Warcraft zu ‚raiden' für viele doch eher peinlich. Und wenn beim Kaffeekränzchen Geschichten aus der Nachbarschaft ausgetauscht werden oder über Mode diskutiert wird, erscheint der Hinweis auf ein gewonnenes Deathmatch eher unpassend. Auch hier kollidiert die Lebensrealität wieder mit dem einseitigen Image vom Computerspieler – denn danach spielt man als Erwachsener nicht! Dauer-Gamer in der Minderheit Diese Kritik an falschen Vorstellungen von Computerspielern mag nun manchem Manager in der Spieleindustrie wie Musik in den Ohren klingen, und vielleicht fühlt sich auch der eine oder andere Spieler bestätigt. Auch das ist uns nämlich bei der Präsentation unserer Daten schon passiert: Begeisterte Spieler erheben sogleich eine Partie Counter-Strike in den Status einer therapeutischen Maßnahme für vereinsamte Jugendliche, und für das Online-Spielen werden plötzlich pädagogische Höchstnoten verteilt.
Aber: Nur weil das eine oder andere Vorurteil als solches entlarvt werden konnte, bedeutet das noch lange nicht, dass nun alle Debatten über Gewaltwirkungen oder Abhängigkeit vom Tisch sind. Denn wir haben auch die andere Seite des (Online-)Spielens kennengelernt: Bei der Frage nach den Lieblingsspielen zeigte sich in unserer Repräsentativstudie zu Online-Gamern, dass gerade unter männlichen Jugendlichen die Shooter besonders beliebt sind. Größtenteils handelte es sich um Titel, die nach USK-Einstufung nicht in die Hände von Jugendlichen gehören. Das zeigt auch, dass Einschränkungen und Verbote nur begrenzten Nutzen haben. Denn das Spielen findet oft komplett außerhalb der Aufmerksamkeit der Eltern statt – mangelndes Interesse, aber auch fehlende Medienkompetenz spielen hier sicherlich eine Rolle.
Und um auf die Frage des älteren Herrn in der dritten Reihe zurückzukommen: Ja, es gibt Formen exzessiven Spielens. Wir fanden in unseren Studien Onliner, die rund um die Uhr zocken, die außerhalb des Virtuellen kaum noch etwas tun. Solche Dauer-Gamer machen nach unseren Untersuchungen etwa fünf Prozent der Online-Spieler aus. Wenn in solchen Fällen pro Tag fünfzehn Stunden gespielt wird – und das dauerhaft, über Wochen und Monate – , dann hat sich die Frage nach Abhängigkeit und negativen Wirkungen wohl von alleine beantwortet.
Man sieht: Die Welt der Computerspieler ist äußerst vielgestaltig, und es wäre wichtig, eine offene Diskussion über das Thema zu führen, fernab von medienwirksamen Vereinfachungen. Weder kann es darum gehen, sich Computerspiele weg zu wünschen, noch sie von jeder Kritik frei zu sprechen. Ein klarer, unvoreingenommener Blick ist notwendig, denn nur so kann Verständnis für die Spieler und deren Hobby entstehen – und zwar sowohl für den legitimen Spaß an einer inzwischen alltäglichen Freizeitbeschäftigung als auch für die Probleme, die mitunter aus dieser Beschäftigung entstehen.
* Thorsten Quandt ist Junior-Professor für Kommunikationswissenschaft mit dem Schwerpunkt Journalismus am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der FU Berlin. Gemeinsam mit dem Sozialwissenschaftler Jeffrey Wimmer vom Institut für Medien, Kommunikation und Information an der Universität Bremen veröffentlichte er die Studie „Online-Spieler in Deutschland 2007“, für die gut 700 Online-Spieler befragt wurden.
Text: jetzt-Redaktion - Illustration: Katharina Bitzl