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„Wir sind ständig ausgebucht“
jetzt.muenchen: Wenn man durch München läuft, sieht man gewöhnlich keine Straßenkinder. Wie muss man sich jugendliche Obdachlosigkeit in der Stadt vorstellen? Berger: Oft hat man das Bild von einem Punk mit Hund im Kopf, der Passanten anbettelt. Von denen gibt es in München aber nur sehr wenige. Aber es gibt sehr viele Jugendliche, die sich Zuhause nicht mehr aufgehoben fühlen und abhauen. Oder deren Eltern sagen: Der hat die Schule und seine Ausbildung geschmissen, der nimmt Drogen, von mir aus soll er hingehen, wo der Pfeffer wächst. Über wie viele Personen sprechen wir da? Vor etwa zwei Jahren konnte man die Schreckensmeldung lesen: „400 Straßenkinder in München!“ Das war eine Null zuviel. Und auch diese 40 Personen, über die wir sprechen, sind nicht durchgängig obdachlos. Manche organisieren sich bei Freunden einen Schlafplatz, manche prostituieren sich und übernachten bei Freiern. Die genaue Anzahl lässt sich nur schwer erfassen. Wir wissen nur eines: Eine verschwindend geringe Zahl von Jugendlichen lebt in tatsächlichen Elend. Es gibt aber sehr viele, die kein Zuhause haben. Wie viele Jugendliche übernachten in der JUP? Zurzeit sind es 21. Mehr Betten haben wir auch nicht. Seit dem letzten Jahr sind wir dauerausgebucht. Das weist daraufhin: Die Desintegration in den Familien schreitet voran.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
In München kaum anzutreffen: Straßenkinder wie hier in Berlin
Haben Sie eine Erklärung für diese Zunahme?
Wenn ich Politiker wäre, dann würde ich etwas von Hartz IV, fehlenden Werten und gesteigerten Leistungsdruck erzählen. Aber definitiv erklären kann ich es nicht. Wahrscheinlich ist es eine Kombination aus allem. Oft sind die Mütter der Jugendlichen alleinerziehend und mit der Situation überfordert. Sie arbeiten den ganzen Tag, das Geld reicht trotzdem nicht und für Erziehung bleibt keine Zeit. Der schulische Ausleseprozess und eine soziale Randlage gehen übrigens Hand in Hand. Viele unserer Jugendlichen sind hoch intelligent, haben aber nicht einmal einen Hauptschulabschluss. Der schulische Druck produziert einen Verlust an Selbstwertgefühl und das äußert sich dann in Drogenkonsum und Kriminalität.
Kann zur JUP jeder kommen?
Ja. Jeder, der daheim rausfliegt – oder geht – wird bei uns, oder einer ähnlichen Einrichtung untergebracht.
Wie alt sind die Jugendlichen in der Regel?
Wir richten uns an Jugendlichen zwischen 14 und 21. In der Alemannenstraße wohnen nur junge Erwachsene zwischen 18 und 21. Ansonsten sind es vor allem Mädchen im Alter zwischen 15 und 16 Jahren, die kommen.
Warum vor allem Mädchen?
Berger: Ein großer Teil unserer Jugendlichen haben einen Migrationshintergrund und viele kommen aus dem islamischen Kulturkreis, wo Zwangsverheiratung und häusliche Gewalt Probleme sind. Vielleicht können sie sich auch leichter lösen als Jungs und tun sich nicht so schwer damit, Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Wie geht es weiter, wenn jemand zur JUP gekommen ist?
Es kommt zu einer so genannten „Inobhutnahme“. Dafür müssen die Elternrechte zeitweise außer Kraft gesetzt werden. Wir rufen dann bei den Eltern an und teilen ihnen das mit. Oft haben wir dann einen tobenden Vater am Telefon, der uns wüst beschimpft. Manche sagen auch: Super, dass er endlich weg ist. In beiden Fällen vereinbaren wir einen Termin, an dem wir gemeinsam über die Sache sprechen. Vieles klärt sich dann auf. Zum Beispiel hatten wir einmal eine junge Frau, die behauptete, ihr Vater missbrauche sie. Der Vater war am Boden zerstört und wollte sich umbringen. Dann stellte sich heraus, dass die Frau das erfunden hatte. Sie störte, dass sie immer um 22 Uhr Zuhause sein musste und wusste sich nicht anders zu helfen.
Text: philipp-mattheis - Foto: dpa