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Wir nennen es Arbeit - und lieben es sogar
Ich habe natürlich überhaupt keine Ahnung, wie es ist, heute 19 Jahre alt zu sein. Ich habe ja schon Schwierigkeiten, zeitgemäß 31 Jahre alt zu sein. Ich könnte mir aber vorstellen, dass man heute am Anfang seines Berufslebens überlegt, wie man so schnell und sicher wie möglich Geld verdienen kann, mit dem man sich dann ein angenehmes Leben machen will. Dabei neigt man dazu, die Zeit zwischen den angenehmen Freizeit-Teilen einfach auszublenden: Die Arbeit. In vielen Köpfen herrscht eine diffuse Vorstellung im Sinne von: „Ich mache von Montag bis Freitag was mein Chef mir sagt und am Wochenende verprasse ich das verdiente Geld.“
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Dabei nützt das schönste oder teuerste Freizeitvergnügen nichts, wenn man einen Horror-Job hat (oder gar keinen, aber dazu später). Es haben sich viele Rahmenbedingungen geändert, was den Komplex Karriere, Arbeit und damit auch Leben angeht. Früher wurde gesagt, „Kind, mach’ was Vernünftiges, mach’ eine Banklehre“. Heute ist eine Banklehre, wenn man sie überhaupt noch bekommt, mehr oder weniger die Garantie, nach der Ausbildung nicht übernommen zu werden. Wofür braucht man Schalterpersonal, wenn in der Filiale alles automatisch funktioniert oder es irgendwann nur noch Banking-Websites kombiniert mit der Privatkundenberatung in der durchdesignten Banklounge gibt? Festung Festanstellung Es gibt dort draußen mehr als nur Festanstellungen und Besseres als die Abteilungsleiter-Karriere bei Siemens. Schon allein, weil es immer schwieriger wird, in die Festung Festanstellung hineinzukommen, aber immer leichter, überraschend herauszufallen. Und dann? Wie viel Prozent der über 50-Jährigen finden nach einer Entlassung wieder einen Job? Und warum glauben so viele junge Menschen mit abgeschlossener Berufsausbildung, dass Bewerbungen und Praktika die einzigen Mittel sind, um aktiv eine Beschäftigung zu suchen? An der Fachhochschule Würzburg-Schweinfurt hat ein Professor im Frühjahr 2005 mit seinen Studenten ein Experiment gemacht und zwei Personen mit absoluten Traumlebensläufen erfunden. Dann haben sie perfekte Bewerbungen erstellt und diese an einhundert Unternehmen gesendet, die ausdrücklich passende Stellen ausgeschrieben hatten. Die virtuellen Kandidaten wurden aus einhundert Versuchen vier Mal zum Gespräch eingeladen. Das sagt alles über Bewerbungen und einiges über Firmen und Festanstellungen. Mir sagt es vor allem, dass es wichtig ist, die Alternativen dazu bekannt zu machen. Deshalb haben Holm Friebe und ich das Buch „Wir nennen es Arbeit“ geschrieben, mit dem Untertitel „Die digitale Bohème oder Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung“. Darin erklären wir verschiedene Alternativen zum Angestelltendasein, nicht für alle Menschen, aber für viele, die es noch nicht wissen. Digitale Bohème ist ein Begriff, den man erklären muss. So bezeichnen wir Menschen, die sich das Arbeitsfeld ausgesucht haben, das sie lieben. Trotzdem kann man, so behaupten wir jedenfalls, inzwischen damit Geld verdienen und zwar mithilfe digitaler Mittel wie dem Internet. Moment, Arbeit lieben? Ja, Arbeit lieben. Das geht sogar ganz gut, wenn man sich aussuchen kann, was, wann und wo man arbeitet. Auch früher konnte man schon so arbeiten, die analoge Bohème hat das getan. Nur war es bedeutend schwerer Geld zu verdienen, wenn man etwa seinen Lebenszweck darin gesehen hat Puppenkleider zu nähen. Inzwischen kann man einen Online-Shop eröffnen, ein Blog über Puppenkleider führen und hat eine gute Chance, ein wenig Geld damit zu verdienen. Natürlich wird das am Anfang allein kaum zum Leben reichen, aber früher oder später wird man Aufträge aus angrenzenden Bereichen bekommen. Und zwar um so früher, je besser man vernetzt ist – was über das Internet sehr viel besser oder überhaupt erst richtig funktioniert. Ebenfalls wichtig ist es, sich mit gleichgesinnten Freunden zusammenzutun und an Projekten zu arbeiten, die man gerne mag. Selbst, wenn sie am Anfang aus finanzieller Sicht sinnlos scheinen. Oft genug entwickelt sich aus solchen Unternehmungen heraus – oder aus ihrer fruchtbaren Asche – ein Geschäftsmodell, von dem man vorher nichts ahnte. Bohème in Turnschuhen Nun ist eine Puppenschneiderei nicht unbedingt der Standardtraumberuf junger kulturinteressierter Menschen, aber die Vielfalt der möglichen Aufgaben und Berufsansätze ist beinahe unendlich. Vor einiger Zeit ist mit „Lucy mit c“ von Markolf H. Niemz eines der ersten „Book-on-Demand“-Bücher zum Bestseller geworden. Dieses Buch hatte keinen herkömmlichen Verlag, sondern wurde vom Autor selbst für einige hundert Euro bei der darauf spezialisierten Firma bod.de in Druckauftrag gegeben. Der Schweizer Autor und Unternehmer Rolf Dobelli verkauft auf getabstract.com Buchzusammenfassungen – geschrieben von freiberuflichen Buchlesern. Bei revver.com und metacafe.com kann jeder selbst gemachte Filme hochladen und wird dafür an den Werbeerlösen beteiligt. Handwerklich Begabte oder irgendwie gestalterisch Kreative können auf etsy.comselbsthergestellte Produkte verkaufen, was erstaunlich gut funktioniert. Unter innocentive.com findet sich eine Plattform, auf der Firmen biochemische Problemstellungen veröffentlichen, für deren Lösung es bis zu 100 000 Dollar Preisgeld gibt. Zopa.co.ukist die erste Peer-to-peer-Bank, wo sich jeder als Banker betätigen kann. So geht es weiter und weiter, dazu gesellen sich die vielen Menschen, die im Bereich Webdesign, Musik, Grafik, Journalismus, Werbung, Programmierung und angrenzenden Bereichen mit, über und im Internet freiberuflich ihr Geld verdienen. Zugegeben, das alles hört sich noch etwas wacklig an. Im Buch sprechen wir davon, dass diese Entwicklungen gerade „von den Kinderschuhen in die Teenager-Sneaker“ geschlüpft sind. Auch kann man von einem noch so schönen, gelungenen Projekt nicht die Miete zahlen, und denjenigen fällt ein solcher Weg leichter, die im Notfall oder auch einfach so durch die Familie unterstützt werden können. Bevor man aber das vierte kaum vergütete Praktikum hintereinander reiht, mit der vagen Aussicht auf eine Fünftagewoche inklusive schlecht gelauntem Chef und Dauerangst vor Firmenpleite oder betriebsbedingter Entlassung, sollte man sich überlegen, ob man mit seiner Zeit nicht etwas Sinnvolleres anfängt. Gerade, wenn man 19 Jahre alt ist und berufliche Entscheidungen zu treffen sind, die das gesamte restliche Leben beeinflussen. Eine selbst gewählte Arbeit kann dabei womöglich der richtige Schritt sein. Die meisten Menschen, die sich dazu entschlossen haben, sind im Nachhinein sehr froh darüber, selbst wenn Durststrecken und Nackenschläge die Regel sind und nicht die Ausnahme. In der digitalen Bohème ist dafür jeder selbst erarbeitete Euro mehr wert als das Schmerzensgeld, das viele Menschen immer noch Gehalt nennen. „Wir nennen es Arbeit“ von Holm Friebe und Sascha Lobo ist bei Heyne erschienen (17,95 Euro). Illu: dirk-schmidt