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Wir Heuchler

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2015. Die Welt so: Terroranschlag, Live-Ticker, Sondersendung. Und wir so? Hashtag-Solidarität, Profilbildänderung, Trotz. Der Dreiklang unserer Trauerarbeit ist mittlerweile Reflex. Im Schock wollen wir uns als Einheit fühlen. Den Schmerz teilen und damit lindern. Angst zulassen, aber gemeinsam bewältigen. Mensch bleiben. Fair enough. Aber dann?

Selten war man sich so einig: Wir lassen uns nicht einschüchtern. Wir machen so weiter, jetzt erst recht! Wir sind so mutig, dem Terror ins Auge zu schauen und nicht zu zwinkern! Und hey, wir Jungen sind ja auch nicht das Problem. Wir haben ja nichts gegen die. Wir sind friedlich. Wir haben verstanden. Wir kennen das seit 9/11. „Und wir sind trotzdem ins Ausland gegangen“, schreibt Mareike Nieberding auf ZEIT Online. „Das Fremde ist für uns keine Bedrohung, sondern ein Versprechen. Wir reisen um die Welt, lernen Hebräisch, Arabisch, Russisch und Türkisch, kochen nach Yotam Ottolenghi und tanzen zu Balkan Beats. Wir haben uns das Fremde längst angeeignet.“ Was für tolle Typen wir sind! Und was für Heuchler.

Wären wir wirklich so aufgeklärt, würden wir nicht diskutieren, ob man Fußballspiele absagen muss. Sondern darüber, warum Drohnen Unschuldige töten und „Terror produzieren“, wie es der ehemalige amerikanischer Drohnenpilot Brandon Bryant formulierte. Wären wir wirklich so interessiert an Völkerverständigung, würden wir nicht über Profilbilder streiten („Bringt das was? Warum eine Nationalflagge? Wären die europäischen Sterne nicht besser?“), sondern Freundschaft mit Moslems schließen, die wie wir unter dem Terror leiden. Wären wir wirklich so hart im Nehmen, würden wir uns nicht von den „Eagles of Death Metal“ in einem Video den Massenmord von Paris, sondern von einem Flüchtling sein Leben erzählen lassen. Oder gar von einem abgehängten Jugendlichen aus einem sogenannten Problemviertel.

 

Wären wir wirklich so kultiviert, würden wir nicht nach Champagner rufen, sondern den Koran lesen, eine Moschee besuchen. Und vielleicht verstehen, wie wenig der Islam mit dem Terror zu tun hat. Das kann man nicht, wenn man zwar mit der globalen Hipster-Oberschicht verkehrt, aber vor lauter Balkan-Beats-Party vergisst, sich den Unterschieden zu stellen. Und den unangenehmen Fragen. Wären wir nämlich wirklich so aufrichtig, würden wir uns fragen, wo das Geld der Terroristen herkommt, wie viele Deutsche vom Waffenhandel leben, wo wir Mitschuld tragen an Ungerechtigkeit. Und warum uns viel egal ist, bis jemand deswegen eine Bombe baut.

 

Wären wir wirklich jung, würden wir nicht solche uralten Reflexe zeigen. Nicht immer nur „wir“ sagen. Wären wir die, die wir vorgeben zu sein – aufgeklärte Kosmopoliten, post-ideologisch, pragmatisch, schlau – wir würden nicht stur unsere Welt verteidigen, ohne sie zu hinterfragen. Sondern ernsthaft, ohne Ironie, versuchen, die Welt zu verbessern. Für die anderen. Und damit auch für uns.

Wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist. Genau das fordert auch Pegida

Sir Peter Ustinov hat mal gesagt: „Terror ist der Krieg der Armen. Krieg ist der Terror der Reichen.“ Aber statt über solche Sätze nachzudenken, wollen wir nur unser gutes Leben. Wisst ihr, wie man das nennt? Konservativ. Wir sind erzkonservative Besitzstandswahrer. Unsere Freiheit, unseren Wohlstand, unser Wir hat niemand in Frage zu stellen. Wir wollen, dass gefälligst alles so bleibt, wie es ist. Fast Food, Tinder, Zara. Haus, Auto, Garten. Ziemlich genau das fordert auch Pegida.

 

So kehren die allermeisten von uns auch nach diesem Horrortrip in ihren satten Alltag zurück. Kümmern sich lieber um skandinavisches Design und Schwarzwälder Gin als um arabische Konflikte und afrikanische Unruhen. Zurück in den Alltag, versichern wir uns, ist genau der richtige Weg. Weitermachen. Nicht unterkriegen lassen. Gut schlafen, gesund essen, morgen zum Yoga.

 

Und dann wundern wir uns, wenn uns jemand angreift. Sind in unserem Selbstverständnis erschüttert. Besonders wir jungen Menschen sind geschockt, die genauso im Bataclan hätten tanzen können. Wir sind getroffen, wo es uns scheinbar besonders weh tut: in unserem Hedonismus.

 

Der ist okay, der gehört zu uns. Und Gewalt ist immer falsch. Wir müssen uns wehren, wenn man uns angreift. Wir dürfen Egoisten und Hedonisten sein. Wir können nicht alle Probleme aller Menschen lösen. Und manchmal, irgendwo in Palästina oder Syrien, gibt es vielleicht leider noch keine Lösung.

 

Aber: Es wird nicht besser werden, bis auch wir uns ändern. Bis wir superschlauen Erste-Welt-Helden mit Bildung, Privilegien und der viel beschworenen Freiheit, zu denken und zu handeln wie wir wollen, über das Warum nachdenken. Warum ganze Regionen im Chaos versinken. Warum wir so reich sind und die so arm. Warum manche unserer Altersgenossen dort nichts anderes kennen als die Angst, von der wir jetzt eine Dosis abbekommen haben.

 

Oder, viel näher: Warum junge Menschen, die den gleichen Shakespeare in der Schule gelesen haben wie wir, nichts Besseres finden als den Sprengstoffgürtel. Warum sie eine menschenfeindliche Propaganda mehr begeistert als unsere bunte Welt des Überflusses. Warum sich Jungs aus europäischen Vororten in einem zerstörten Land radikalisieren lassen. Warum sie mit Bomben zurückkommen. Warum sie, statt zu leben wie wir, dieses perverse Theaterspiel aufführen. Und was unsere Rolle darin ist.

 

Den Sumpf, in dem Terror wächst, auszutrocknen, während wir seinen Opfern helfen, könnte das Projekt unserer Generation sein. Nicht, weil sie uns sonst kaputtbomben. Das schaffen sie nicht. Dafür sind wir zu stark. Sondern genau deswegen: Weil wir stärker sind. Weil wir es können.

 

Text: friedemann-karig

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