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Wir haben verstanden 2015

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Hast du das verstanden?“, wird man oft gefragt, und oft lautet die Antwort: „Nein. Null. Kannst du’s mir bitte noch mal erklären?“ Denn was man verstehen muss, versteht man oft nicht. Dafür versteht man jeden Tag tausend andere Dinge. Nebenbei, zwischendurch.

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Illustration:Kkatharina Bitzl

Weil das so ist, schreiben wir auf jetzt.de jede Woche zusammen eine Liste, in der alles steht, was wir in den vergangenen sieben Tagen gelernt und verstanden haben, im Privaten, in der Poltik, in der Popkultur. Jetzt, zum Ende des Jahres, haben wir das auch wieder gemacht, nur eben für 52 Wochen statt für sieben Tage. Was ist passiert in 2015? Welche Erkenntnisse haben wir daraus gewonnen? Was hat uns verstehen lassen, dass die Welt ein guter Ort ist, was, dass sie ein schlechter ist? Jetzt veröffentlichen wir die Verstanden-Punkte aus diesem Jahr – dem Jahr des Jahrhundertsommers, der Flüchtlinge, des Terrors, des Jan Böhmermann, der Griechenlandkrise – in dem aber natürlich auch unsere eigenen Leben weitergegangen sind. Vollständig ist diese Liste natürlich nicht. Aber vielleicht findet jeder ein paar Punkte darin, die er oder sie auch versteht. Und stellt sich danach eine eigene Verstanden-Liste zusammen. So nah ist uns das Weltgeschehen noch nie auf die Pelle gerückt. Auf einmal sagen Freunde, die aus dem Nachbarland kommen, Sätze wie: „Wird später, wurde an der Grenze aufgehalten.“ Im Radio sagen sie es jetzt auch dauernd: „Stau bei der Einreise nach Deutschland.“ Irgendwie haben doch alle Menschen ständig dieses Truman-Show-Gefühl („Das ist doch alles gar nicht echt“, „Irgendwer hat mein Leben geskriptet“, „Demnächst fliegt’s auf!“). Praktisch: Jede Jahreszeit eignet sich als Ausrede fürs Faulsein (Frühjahrsmüdigkeit! Zu heiß zum Arbeiten! Sommer-genießen-Zwang! Herbstdepression! Vorweihnachtsstress! Zu müde, weil zu dunkel!). Zeit heilt halt doch alle Wunden. Merkt man aber nicht jedes Jahr, weil man nicht jedes Jahr Wunden hat, die heilen müssen.

Wir haben Helmut Schmidt eigentlich schon seit fünf Jahren nicht mehr zugehört. Oder seit zehn? Günter Grass auch nicht mehr. Harry Rowohlt aber schon noch. Und Jan Böhmermann eh. Apropos: Man kann versuchen, Jan Böhmermann zu parodieren. Aber es wird nicht funktionieren. Einen Witz machen, hat manchmal Konsequenzen. Einen Witz über Hip-Hopper machen immer. Olli Schulz wird die neue Charlotte Roche. Feminismus kann Spaß machen. Beweis: Amy Schumers Film „Trainwreck“ (wenn man darüber hinwegsieht, dass er in Deutschland „Dating Queen“ heißt).

Keine Post zu bekommen ist fast immer besser als Post zu bekommen. Hätte man ja 2014 nie gedacht, aber: Vielleicht wählt man 2017 Merkel. Vorausgesetzt natürlich, sie wird bis dahin 95 Prozent ihrer eigenen Partei los. Wenn man mal Menschen beim Lügen zuhören will, muss man nur fragen: „Wie oft wäschst du deine Jeans/deinen BH?“ Die Regierung plant einen Bundeswehreinsatz in Syrien und niemand steht auf. Man sollte sehr viel mehr von Anja Reschke sehen. Brille und Schnauzbart sehen leider immer ein bisschen aus wie eine dieser Brille-Nase-Schnäuzer-Schnell-Kostüm-Masken. Joko und Klaas können politisch. Und Youtube ist auch ziemlich politisch geworden. Solidarität auf Facebook wird gemeinhin unterschätzt.

Seit den Anschlägen im Januar und November in Paris, zuckt man zusammen, wenn das Smartphone vibriert. Wenn Zschäpe im NSU-Prozess aussagt, vibriert es übrigens alle zweieinhalb Minuten. Eisberge können weinen. Irgendwann klang das mit der Sharing Economy mal gut. Es muss anstrengend sein, sich ständig von seiner Religion distanzieren zu müssen. Wenn die engsten Freunde alle heiraten oder schwanger werden oder beides und man selbst so: Single, Party, Thailandreise – fühlt man sich ein klein wenig wie Peter Pan. Andererseits führt das aber auch zu: Hochzeitseinladungen, Trauzeugenverpflichtungen und einsamen Abenden als Babysitter. Gegen Ende 20 werden alle kinderlosen Freunde zu Babysittern in Ausbildung. Wir brauchen keine Parodien auf die Smartphone-Generation mehr. (Brauchten wir noch nie.) Dachgeschosswohnungen und ein Rekord-Sommer passen absolut nicht zusammen. Der Sommer war so lang, dass man irgendwann vergessen hat, dass er ja irgendwann wieder vorbeigeht. Das führte dazu, dass im August gemachte Partyplänen für Ende September Biergartenbesuche und Draußenfeiern umfassten. Notfalldecken waren jahrelang nur die Dinger, die irgendwo im Auto lagen. Jetzt sieht man sie ständig auf Fotos.

Überhaupt: krasses Fotojahr. Man sollte meinen, dass die Menschen vernünftiger werden, je älter sie werden. Leider ist das Gegenteil der Fall: Je älter sie werden, desto eigener, verschrobener und damit streitsüchtiger werden sie. Aus Deutschland kommen wieder gute Serien. Naja, zwei. Das mit Trump kapiert kein Mensch. Obama sieht gut aus, wenn er Weißbier trinkt. Die deprimierende Erkenntnis: Fleiß ist gut. Talent ist besser. Gute Connections sind optimal. Manchmal sind die Geschichten am schönsten, in denen einfach nichts passiert. Man kann die Menschen nicht mehr verunsichern als mit der Aussage, sie nicht verunsichern zu wollen. Telekom- und ähnliche Läden sind nur Franchise-Nehmer, die auch nix dafür können. Nie waren CSU-Parteitage amüsanter. Wenn der kleine Hunger kommt: Lachs gelingt immer. Seelachs eh. Wenn man mächtige, alte, weiße Männer mit Geldscheinen bewirft, sehen sie auf einmal aus wie bemitleidenswerte, alte, weiße Männer. Schöne Bücher sind nicht gleich gute Bücher. Schöne Fahrräder schon eher. Wenn Kollegen verzweifelt sind, schreiben sie die unterhaltsamsten Mails. Menschen ändern sich leider, leider, leider nicht einfach so. Sonst wär’s vielleicht auch zu einfach. Es gibt Heidenau. Und Freital. Und Tröglitz. Und Altena. Und . . . „Schrei nach Liebe“ ist 2015 immer noch aktuell. Leider. Komische Menschen sprechen Modebloggern das Recht ab, sich über Politik äußern zu dürfen (und zu können). Pegida war leider zu früh totgesagt. Das Gute an Pegida: Für Gegendemos gehen wieder viele Leute auf die Straße. Jeden Abend zusammen einschlafen ist das Beste der Welt. Die angenehmsten Zeitgenossen sind die, die nicht die ganze Zeit über sich selbst nachdenken. Erwachsenwerden bedeutet, den Eltern zu sagen, dass man ihren Rat falsch findet. Und sich einen Adventskranz zu kaufen. Man muss mit seinen Großeltern reden, bevor sie von heute auf morgen nicht mehr sind. Wenn bei alten Paaren einer stirbt, ist der übriggebliebene Mensch plötzlich ein anderer als vorher.

Ab 27 ist man als Frau in einem Alter, in dem einen Herren über 50 völlig ungeniert anflirten. Darüber empört man sich erst („Was für ein notgeiles Schwein, sich auf so junge Mädchen wie mich zu stürzen!“) und dann kommt die Erkenntnis („Ich bin kein junges Mädchen mehr. Ich bin eine erwachsene Frau.“) Der Mensch braucht für alles einen Sündenbock. Immer. München wird jetzt mehr geliebt. Bei Notfällen merkt man, dass Ordnung, gute Organisation und finanzielle Sicherheit am Ende eben doch gut sind. Egal, wie oft vorher alle „spießig“ gebrüllt haben. Das Internet kann sehr ausführlich und sehr lange über die Farben eines Kleides streiten. Die Schlaghose wird nicht schöner, nur weil man sie alle zehn Jahre wiederbelebt. Die Skinny-Jeans wurde dieses Jahr ja auch mal wieder totgesagt (und wird dann sicher auch bald wiederbelebt). Dschihadisten morden und unterdrücken – und verbrennen Klaviere. Beim IS sind Ersatzreifen verboten: mangelndes Vertrauen in Gott.  

Was wir verstanden haben über: Til Schweiger, Spotify, Ausspähen unter Freunden und vieles mehr.

Die Merkwürdigkeit des Til Schweiger: Er baut ein Flüchtlingsheim, er baut doch kein Flüchtlingsheim. Er dreht einen Flüchtlingsfilm – or not? „Wir schenken uns nichts!“ ist immer gelogen. Und am Ende ist immer einer der Arsch. er noch nicht genug Menschenhass verspürt, muss nur mal einer Whatsapp-Gruppe beitreten, mit der etwas organisiert werden soll: Keiner kann lesen, einer ist immer beleidigt, eine weiß alles besser und man selbst schreibt viel zu aggressive Nachrichten. Trolle, ey. War wohl deren Jahr. Wenn alle ein schlechtes Jahr hatten, man selber aber eigentlich ein gutes, fühlt man sich schlecht. Nostalgie hat sehr viel Macht. Noch mehr vielleicht nur ein ausgestreckter Mittelfinger. Man kann sich natürlich gern und gut über Xavier Naidoo aufregen. Man sollte sich dabei nur bewusst sein, dass man fast immer auf die Privatperson einprügelt – und nur ganz selten auf den Künstler. Spotify kennt dich besser, als dir lieb ist. Das merkst du, wenn dein Mix der Woche auf peinlichen, heimlichen Lieblingsliedern basiert. Ein Handwerker im Freundeskreis macht das Leben besser. Ein Anwalt eigentlich auch. Anwälte haben aber keine Freunde. Wenn man nett fragt, bekommt man auf fast alles eine Antwort. Wenn Menschen Kinder bekommen, ist der nächste Schritt: Weihnachtskarten an den gesamten Freundeskreis. Seelenverwandte erkennt man meist schon in den ersten fünf Minuten.

Ganz schön oft gedacht: „Haben die denn keine anderen Sorgen?“ Fast genauso oft: „Oarrr. Get a life!“ Die Dänen haben einen eher gewöhnungsbedürftigen Humor. Merkel und Obama haben beim G7-Gipfel in Elmau vor allem eins geschaffen: ein witziges Mem. Jedes Jahr wird ein bisschen mehr über die Attraktivität (oder Unattraktivität) von Politikern diskutiert. Ausspähen unter Freunden geht anscheinend doch. „Oxi“ heißt „Nein“ auf Griechisch. Und „privilegiert“ ist jetzt ein Schimpfwort. Autos. Schrecklich, schrecklich, schrecklich langweilig. So langsam kriegt man das Gefühl, das mit den vielen tollen Serien könnte bald dann auch wieder vorbei sein (und hofft, dass es nicht so sein wird). Zum Glück gibt es genug, die man noch nicht gesehen hat. Hilft gegen fast alles, was nicht schön ist: alte Sitcoms aus den Neunzigern. Jetzt denken wirklich alle, sie müssten jetzt nach Kuba reisen („Noch mal schnell hin, bevor das so wird, wie der Rest der Welt!“). Wer dieses Jahr nicht auf Kuba war, der war in Sri Lanka. Bei einem Ehrenamt im Flüchtlingsbereich lernt man viel über Flüchtlinge. Aber eventuell noch mehr über Ehrenamtliche. Die Welt dreht sich weiter. Auch im Internet. Auch auf jetzt.de. Auch hier.

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