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Wir-gegen-Die-Musik: Der Protestsong von Bertolt Brecht bis Kettcar
Woodstock ist im 21. Jahrhundert unnötig, wir haben das Internet. Auf der Webseite von Neil Young, dem großen Mann der Gitarrenpolitk, der in zwei Alben erst den Krieg gegen den Terror lobte und dann verdammte, findet sich die Rubrik „Songs of the Times“, in der Young Lieder-Links zu Protestsongs sammelt: Dylan-Bootlegs, Amateuraufnahmen, Parodie-Pop und You-Tube-Ansprachen. Mehr als 2500 Einträge sind mittlerweile zusammen gekommen, die meisten mit wenig subtilen Titeln wie „Nights in Falludscha“ oder „No more Bush“. Let’s Blog’n’Roll – oder wie? Es ist ein Zeichen der Zeit, dass sich jeder äußern darf, aber keine Stimme, kein Song mehr so laut erklingt, dass auch alle zuhören. Das war früher, so erzählen es die Alten, irgendwie anders. Warum soll die Stimme des kleinen Mannes nicht schön und eingänglich klingen? Das ist die Logik hinter der Idee, mit dem emotionalen Musik-Medium, eingängigen Akkorden (G-E-C-D) und Zeilen, die Menschen zu ändern.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Bob Dylan 1963, Foto: AP Im 19. Jahrhundert schrieben Ernst Toller und Kurt Eisner die ersten Arbeiterlieder, Brecht und Kurt Weil entwickelten später melodische Arbeiter-Sprechchöre, Agitprop-Trupps, die „Rote Raketen“ oder „Das Rote Sprachrohr“ hießen. Als Genre etablierte sich der Protestsong erst in den 50er Jahren, als Woody Guthrie, Pete Seeger und später Bob Dylan den Soundtrack für die Gegenkultur lieferten. Atombomben, Kalter Krieg und Vietnam – ein dickes NEIN! Der Protestsong war immer von einer Wir-gegen-Die-Mentalität geprägt, er hatte die Lösung (Stopp!) parat und wusste, wo die Guten und wo die Bösen stehen. Vielleicht ist es nicht mehr so einfach, ein Plattencover in Schwarz und Weiß zu malen. Vielleicht sind Musiker längst zu sehr Teil des Medien-Unterhaltungskomplexes geworden, als dass sie das System noch von Außen besingen könnten (Bono!). In den 80ern wurde der Protestsong durch den Charity-Song ersetzt: „Do they know it's Chrismas“ (Geldof) und „We are the World“ (Jackson) – die Songs forderten nicht mehr politisches Engagement, sondern nur noch eine Spende und Kurzzeit-Empathie. Vielleicht behalten also ausgerechnet die Spaßgesellschaftspunks von den Ärzten Recht, die ein hämisches Protestlied gegen Protestsong geschrieben haben: „. . . und hinter euch flattert euer Transparent und ihr flennt.“ Auf der nächsten Seite: Die drei wichtigsten Protestsongs
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Song: „We Shall Overvome“ Künstler: Pete Seeger/Joan Baez und andere Komponiert von: einem unbekannten Künstler als „I Will Overcome“. Jemand macht ein Gewerkschaftslied draus und änderte das „I“ in ein „We“. 1963 hat Seeger es in der Carnegie Hall gesungen und später 500 000 Platten verkauft, „aber es gehört der ganzen Welt“. Beste Textzeile: „Deep in my heart / I beliiiiiiiive / that we shall overcome someday“ End of Story: Pete Seeger sang „We Shall Overcome“ in Asien, in Afrika, in Europa und immer wieder in sozialistischen Ländern. Er sang das Lied so oft und an so vielen verschiedenen Orten, dass man irgendwann gar nicht mehr wusste, was jetzt eigentlich überwunden werden musste.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Lied: „Rauch-Haus-Song“ Künstler: Ton Steine Scherben Komponiert als: Feel-Good-Song für die Hausbesetzer des Martha-Maria-Hauses auf dem Gelände des ehemaligen Bethanien-Krankenhauses in Berlin. Bullenschweine, Tränengas, Mollies – der „Rauch-Haus-Song“ als eine „oral history“ der Berliner Straßenkämpfe. Beste Textzeile: „Sag mir eins, ha’m die da oben Stroh oder Scheiße in ihrem Kopf? Die wohnen in den schärfsten Villen, unsereins im letzten Loch.“ End of Story: „Keine Macht für niemand“ und „Das ist unser Haus“: Die Parolen von Ton Steine Scherben-Sänger Rio Reiser geistern immer wieder durch den Zitatenwald und werden von Mini-Punks genauso zitiert wie von Bausparkassen – und sogar von der rechtsextremen Gruppe Landser
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Song: „Capitalism Stole My Virginity“ Künstler: International Noise Conspiracy Komponiert als: „Hommage an die Kämpfer von Seattle und Genua“, wie Sänger Dennis Lyxzèn sagt. „Capitalism Stole My Virginity“ wurde Ende der 90er zur Hymne der Globalisierungsgegner. „Wenn ihr glaubt, dass ein Rockkonzert der größte Spaß ist“, sagt Lyxzèn oft bei Konzerten, „dann wartet mal, bis die Revolution kommt.“ Beste Textzeile: „We are all sluts, cheap products / In someone else's notebook“ End of Story: 2007 soll es nach langer Pause ein neues Album geben. Auf Konzerten hält Dennis Lyxzèn noch immer sozialistische Vorträge, die aber keiner mehr hören will. Wenn die Leute ihn auffordern, mal wieder ein Lied zu singen, sagt er: „More talk is more rock!“