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Wie Pierre der Bösewicht in einer brasilianischen Telenovela wurde
Eine Bar in München, vor etwas mehr als einem Jahr, Pierre Kiwitt versieht seine Arbeit als Kellner, vom Schauspiel kann er noch nicht leben. Sein Kollege Marcello ist der Barkeeper und an diesem Abend will Pierre ihn um etwas bitten. Er erzählt Marcello von dem Angebot des brasilianischen Fernsehsenders TV Globo, es geht um eine der Hauptrollen in einer Telenovela und – er weiß nicht so recht, was er von dem Angebot halten soll. Marcello stutzt und will wissen, wer neben Pierre mitspiele? „Eine Frau namens Malu Mader“, antwortet Pierre. „Bist du sicher?“, fragt der Barkeeper aufgeregt und Pierre nickt und beschwichtigt zur selben Zeit. Da schüttelt Marcello den Kopf und fragt Pierre, ob er sich eigentlich im Klaren darüber sei, wovon er gerade rede? Malu Mader ist in Brasilien das, was Romy Schneider einmal für Deutschland war. Pierre spielte im vergangenen Jahr neben ihr, 147 Folgen „Eterna Magia“. Pierre Kiwitt, 31, ist ein großgewachsener Mann, dessen Gesicht man aus dem deutschen Fernsehen zu kennen meint. Er hat sich vor einem Café am Odeonsplatz in seine Winterjacke gemummelt und erzählt vom Weg in die Hitze Brasiliens, manchmal knackt er dabei die Knöchel seiner Finger.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Pierre Kiwitt, zurück in München. Seine Mutter ist Französin und Pierre besuchte in München das französische Gymnasium. Er spielte viel Theater, er liebte das Spielen und auf einem Theatertreffen auf Schloss Versailles bei Paris wurde die Abordnung aus München gar mit einem Preis ausgezeichnet. Doch nach dem Abitur folgte Pierre dem Wunsch des Vaters und begann eine Banklehre. Er arbeitete am Schalter und handelte später mit Aktien. Die Idee vom Schauspiel blieb in seinem Hinterkopf verwahrt und in Form einer Visitenkarte auf seinem Schreibtisch liegen. Denn einmal zahlte Pierre einer Kundin am Schalter Geld aus, als die Frau ihn ansprach. „Ein großer junger Mann wie Sie, der müsste auf die Bühne!“ Pierre merkte auf und nahm die Künstleragentin zur Seite. Ihr Kärtchen hütete er von da an wie den Schlüssel zu einem anderen Leben. 140 Kandidaten Im Lauf der Jahre stellt Pierre seine Arbeit in der Bank immer öfter in Frage. Es kann nicht sein, denkt er, dass sich das Leben nur darum dreht, wie viel Geld man in einer Minute macht. Immer wieder nimmt er zu Hause das Kärtchen zur Hand, im Alter von 24 Jahren zum letzten Mal. Er legt es neben das Telefon und gerade als er aus dem Zimmer gehen will, dreht er sich um und sagt sich: „Jetzt.“ „Kennen Sie mich noch?“ „Natürlich!“ Die Agentin vermittelt Pierre einen Schauspiellehrer, der bald seine Freizeit beansprucht. Später besucht er die Theaterakademie Köln, er gibt seinen Job nicht auf, von etwas muss man ja leben. Nach der Arbeit liest Pierre Bücher von Strasberg und Stanislawski, Schauspiellehrer, er macht sich auf den grob geschotterten Weg, den viele Schauspieler gehen: Kostenlose Engagements in Filmen von Hochschulabsolventen und Mediengestaltern, Improvisationstheater in der Hochschulgemeinde und Stücke auf Französisch im Oberanger Theater. Pierre sieht jetzt der Sonne nach, die am Odeonsplatz gerade hinter der Theatinerkirche verschwunden ist. Aus der Barer Straße sticht ein Polizeiauto und dreht mit quietschenden Reifen in die Ludwigstraße. „Das haben wir auch gemacht“, sagt Pierre und erinnert sich an seine Stuntman-Ausbildung in Köln. Jedes zweite Wochenende lernte er, wie man aus fahrenden Autos heraus oder in sie hinein springt. 2004 kündigt er bei der Bank und wagt den Sprung ins Schauspiel. Er will sich später nicht vorwerfen müssen, es nicht wenigstens versucht zu haben.
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Szenenbilder aus "Eterna Magia" Pierre spielt Nebenrollen, knüpft weiter Kontakte, es läuft eigentlich ganz okay, als ihm jemand empfiehlt, sich im Darstellerverzeichnis Spotlight einzutragen. Ende 2006 bekommt seine Agentin auf den Eintrag hin eine E-Mail aus Brasilien. Pierre belächelt das Angebot von TV Globo zuerst. „Ich spreche doch nicht mal Portugiesisch“, entgegnet er den Produzenten. Kein Problem, antworten die: Er spreche doch Spanisch, das sei fast wie Portugiesisch! Gemeinsam mit Barkeeper Marcello übt er drei Probeszenen in der fremden Sprache und schickt die Demo-Bänder nach Lateinamerika. Brasilien sagt schließlich „Ja“ zu Pierre und Pierre sagt „Ja“ zu Brasilien. Nun kann er seinen Freunden beim Kopfschütteln zusehen, wenn die von seinem Vorhaben erfahren, nach Rio de Janeiro zu fliegen. Am 2. März 2007 reist er zu den Dreharbeiten von „Eterna Magia“, ausgewählt aus 140 Kandidaten. Ein deutsch-sprechender Mann holt ihn ab und wird Pierres Coach, Terminkalender, Handy und sein Übersetzer. Es ist heiß und Pierre bezieht ein Hotelzimmer mit Blick auf den Atlantik. In den Straßen fahren VW Käfer, manche Bäume sehen aus wie Igel, in anderen sitzen Äffchen. Die brasilianischen Produzenten und Schauspieler freuen sich über seine Ankunft, bald geht es los – in den ersten Wochen fallen Pierre früh am Abend die Augen zu. Zuviele Eindrücke. In der Telenovela-Industrie Das Studio in Rio de Janeiro ist doppelt so hoch und vielleicht sechs mal so flächig wie ein Oktoberfest-Bierzelt, schätzt Pierre und erinnert sich an ein Meer von Scheinwerfern. „Telenovelas drehen ist dort eine Industrie.“ Seit Jahrzehnten laufen in Brasilien Telenovelas mit großem Erfolg. Auf TV Globo gibt es die Sechs-, die Sieben- und die Acht-Uhr-Novela, der Sender zählt zu den größten der Welt. „In jedem Restaurant im ganzen Land läuft dort eine Glotze“, sagt Pierre, Eterna Magia läuft um sechs Uhr am Abend. „Wir hatten auch die schlechtere Quote der drei“, erinnert er sich und lächelt – weil die Einschaltquote dennoch zwischen 40 und 60 Prozent lag und Millionen Menschen zwischen Südatlantik und Amazonas Pierre Kiwitt alias Peter Gallagher bei seinen Auftritten in dieser Geschichte zusahen: Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges lebt die Pianistin Eva Sullivan (Malu Mader) in Irland und pflegt eine Affäre mit dem Arzt Peter Gallagher. Nach einer Herzattacke des Vaters trennt sich Eva von Peter, reist nach Brasilien und entdeckt zu Hause ihre Liebe zum Nachbarssohn Conrado wieder – der gerade drauf und dran ist, Evas Schwester zu heiraten. Es kommt dennoch zur Hochzeit, zu der auch Peter Gallagher geladen ist. Aus Liebe zu Eva aber lässt Conrado die Trauung am Altar platzen. „Das ist in den Telenovelas eine Art Standard“, sagt Pierre und skizziert in wenigen Worten die dennoch vertrackte Kurzversion seiner Telenovela, in der Schriftsteller Paulo Coelho als Erzähler fungierte und die von den Drehbuchschreibern nach Gusto des Publikums umgeschrieben wurde. So wurde aus dem charmanten Peter Gallagher ein fieser Gefährte, der mit Tabletten und Intrigen seine alte Liebe Eva fast in den Wahnsinn trieb. „Den Bösewicht spielen ist die dankbarste Rolle, die es gibt“, sagt Pierre. „Alles dreht sich nur um das, was du tust“.
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Szenenbilder aus "Eterna Magia" Pierre dreht fast täglich und die Presse porträtiert den deutschen Schauspieler. Bald stellt ihm die Produktion einen Bodyguard zur Seite, immer öfter wird er in den Straßen erkannt. Als Pierre einige Tage verreist, um Tauchen zu lernen, entsteht am Reiseziel ein kleiner Aufruhr. Bald nach seiner Ankunft versammeln sich gut 50 Menschen vor der kleinen Hütte, in der er übernachtet. Die Menschen bringen Geschenke, eine Frau drückt Pierre einen Pokal in die Hand: Dritter Platz beim Surfen der Frauen. „Der ist von meiner Tochter. Ich will, dass du ihn hast“, sagt sie. „Nein“, entgegnet Pierre, „deine Tochter hat dafür hart gearbeitet“. – „Sie hat viele davon. Sie freut sich, wenn ich dir den Preis gebe!“ Pierre fühlt sich seltsam bei soviel Güte. „Die haben nichts. Aber die haben ein Riesenherz.“ Brasilien sei ein serienverrücktes Land. Die Nachricht von Peter Gallaghers Tod in der letzten Folge von Eterna Magia stand in einigen Zeitungen des Landes auf Seite eins zu lesen. „Ich will nur spielen!“ Was hat Pierre im vergangenen Jahr gelernt? „Erstens, dass dieses Jahr das war, wofür ich alles riskiert habe. Und zweitens Portugiesisch.“ Zu Beginn war er qua Charakter der noch hölzern portugiesisch sprechende irische Arzt, der mit dauerndem Aufenthalt in Brasilien aber immer sicherer in der Landessprache wurde und am Ende minutenlange Monologe sprach. „Wenn ich diese Szenen heute Freunden zeige, kommt es mir vor wie ein Traum“, sagt Pierre. Und wenn er erzählt, wirkt es, als komme er gerade aus dem Kino und berichte von einem Film. Seine Münchner Freunde bekommen Ende 2007 einen Star zurück, der hier kein Star ist und den nur noch Gästebucheinträge auf der Homepage an ein Ausnahmejahr erinnern. An ein Jahr Auszeit. Vermisst er seine Berühmtheit? Pierre schüttelt den Kopf. "Ich mache das nicht, weil ich berühmt werden will. Mir geht es auch nicht um Status, es geht mir allein um die Wertschätzung meiner Arbeit. Ich will einfach spielen!" Nach Ende der Novela gab es noch ein Rollenangebot für einen Film in Brasilien, mit dem es am Ende doch nichts wurde. „Irgendwann war ich auch froh, weg zu sein. Weil es sauviel Arbeit war und weil ich Urlaub brauchte.“ Und weil er seine Freundin wiedersehen wollte. Bei seiner Abreise waren die beiden erst ein halbes Jahr zusammen. Nun beginnt sein Leben von vorn. „Wie nach jedem anderen Projekt“, sagt Pierre. „Ich stell mich bei Produzenten vor und zeige mein Demoband.“ Im Frühjahr spielt er, soviel ist sicher, die Hauptrolle in einem spanischen Kinofilm. Als Pierre vor zwei Wochen mit seiner Freundin durch den Englischen Garten spaziert, trifft er zum ersten Mal seit einem Jahr den brasilianischen Barkeeper wieder. Die Freude ist groß und hell, Marcello hat die Serie verfolgt und ist begeistert. Doch was beide am meisten freut: Sie unterhalten sich zum ersten Mal, seit sie sich kennen auf Portugiesisch. Wahrscheinlich ist Pierre einer der wenigen Menschen, die ihren Sprachkurs im Fernsehen machten. Vor Zuschauern. An manchen Tagen waren es mehr als 70 Millionen. *** Die dramatischen Momente der letzten Folge von "Eterna Magia", in der Pierre alias Peter zu Tode kommt, siehst du hier:
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Text: peter-wagner - Foto: Chris Hirschhäuser; Szenenbilder: oh