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Weg, bevor der Winter kommt

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An fast jeder Straßenecke stehen Soldaten, den Finger am Abzug des Sturmgewehrs, während sie ins Innere der vorbeifahrenden Autos spähen. Aaref sitzt in einem Taxi auf dem Beifahrersitz, nippt Kaffee aus einem Plastikbecher und zieht dann kräftig an seiner Zigarette. Am weiß-roten Kontrollhäuschen der Armee lehnt er sich nach vorne, sodass ihn der Soldat gut sieht, und grüßt: „Möge Gott dich stärken, Ahmad!“ Soldat Ahmad zwinkert Aaref zu und fragt: „Kifak?“ – „Wie geht’s?“ Nachdem sie die üblichen Floskeln ausgetauscht haben, geht die Fahrt weiter.

Der Fahrer biegt in die nächste Häuserschlucht des Viertels Bab al-Tabbaneh in der libanesischen Hafenstadt Tripoli ein – aufgerissene Fassaden links und rechts, die das Innere der Gebäude nach Außen kehren: zerstörte Bade-, Schlaf- und Wohnzimmer, nackt und schutzlos. Je tiefer das Taxi in die enge Straße eindringt, umso mehr scheint es, als könnten die Häusergerippe jeden Moment über einem zusammenbrechen. „Ich will hier weg. Es gibt im Libanon keine Chancen für mich“, sagt Aaref. „Ich habe Angst, dass ich in Tripoli zugrunde gehe.“ In ein paar Tagen wird der 25-Jährige deshalb seine Heimat verlassen. Mit Freunden will er im Schlauchboot über das Mittelmeer nach Griechenland fahren und dann zu Fuß weiter. Sein Ziel ist Deutschland.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Es sind also nicht nur die Syrer auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg, die sich in diesen Tagen von Tripoli aus nach Europa aufmachen: In den letzten Monaten sollen laut libanesischer Medienberichte mehrere tausend junge Libanesen ihr Land verlassen haben. Offizielle Zahlen liegen nicht vor. Warum begeben diese Menschen sich mit den syrische Flüchtlinge auf die gefährliche Reise ins Ungewisse? Befürchten sie, dass der Krieg in Syrien doch noch auf den kleinen Nachbarstaat übergreift?

Tatsächlich spielen der Syrienkrieg und seine Begleitsymptome eine entscheidende Rolle für die Auswanderungswelle. Vor allem in Tripoli befeuert der Krieg eine Jahrzehnte alte religiös und politisch motivierte Fehde zwischen zwei Vierteln: Dort bekämpfen sich Sunniten auf Seiten der syrischen Opposition in Bab al-Tabbaneh und Alawiten aus Dschabbal Mohsen, die das Assad-Regime unterstützen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Das Resultat daraus ist die Trümmerlandschaft, in der Aaref aufgewachsen ist. Er bezahlt dem Taxifahrer umgerechnet 50 Cent und steigt aus dem Wagen. Er steht am Fuße eines Hügels. Dort oben, nur ein paar Meter entfernt von ihm, beginnt Dschabbal Mohsen – der ewige Feind. Die Grenze ist ein Hochhaus. Die vielen Einschusslöcher in der Fassade sind nur dürftig verputzt. „Wir sind mit den Geschichten aufgewachsen, dass die Kämpfer aus Dschabbal Mohsen blutige Massaker in Bab al-Tabbaneh angerichtet haben. Wenn einer von uns dorthin ging, wurde auf ihn geschossen, und dasselbe galt in unserem Viertel“, sagt er. Ende 2014 verschärfte die libanesische Armee die Sicherheitsmaßnahmen in beiden Bezirken. Erst seitdem sei es einigermaßen ruhig geworden, sagt Aaref.

Vor vier Jahren, sagt Aaref, sei alles noch schlimmer geworden. Damals kamen die Syrer nach Tripoli

Auch Aaref war ein Kämpfer. Er war gerade einmal 16 Jahre alt, als ihm ein Bekannter eine Waffe in die Hand drückte und ihn auf die Straße schickte. Doch anstatt zu töten, wurde er damals zum Helfer: „Während der Kämpfe traute sich das Rote Kreuz nicht in unseren Bezirk. Also habe ich die Verletzten ins Krankenhaus gefahren. Viele starben auf meiner Rückbank.“ Das Auto hat er erst vor ein paar Tagen verkauft. Nicht, weil ihn die Erinnerungen quälen, sondern weil er dringend Geld braucht. Knapp 3000 Euro wird ihn die Reise nach Europa kosten. Dafür verkauft er sein altes Leben. Denn Aaref will der Gewalt und der extremen Armut in Tripoli entkommen: „Wir sind Bürger zweiter Klasse. Es gibt keine Arbeit, keine Perspektive, keine Gesundheitsversorgung . . . Die meisten Libanesen denken, wir aus Tripoli seien alle Terroristen, und die Politiker lassen uns am langen Arm verhungern.“

Vor vier Jahren, so erzählt Aaref, sei ihre Lage noch schlimmer geworden. Damals kamen die syrischen Flüchtlinge in den Libanon. Mittlerweile sind es über eine Million, in einem Staat mit gerade mal viereinhalb Millionen Einwohnern. „Auch wenn es den Syrern hier nicht so gut geht wie vor dem Krieg, haben sie doch mehr Arbeit und Essen als wir“, behauptet Aaref. Warum? Ganz einfach, meint er, für das Gehalt eines Libanesen, etwa zehn Euro pro Tag, würden Arbeitgeber heute lieber zwei Syrer einstellen. Wie die syrischen Flüchtlinge nach Europa aufzubrechen, sieht er deshalb als einzigen Ausweg: „Ich kann als Libanese nicht mehr als Müllmann oder auf dem Bau arbeiten. Das machen alles die Syrer. Und wenn für mich hier kein Platz mehr ist, dann muss ich gehen.“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Aaref war noch nie in Europa. Wie stellt er sich das Leben in Deutschland eigentlich vor? Er zählt auf: „Ich glaube, in Deutschland gibt es viel mehr Sicherheit und Menschlichkeit als hier. Ich hoffe, dass ich dort Arbeit finden kann, um meine Familie hier zu unterstützen.“ Er hat gehört, dass tausende Deutsche gegen Flüchtlinge, Migranten und deren Kultur demonstrieren. Aaref ist gläubiger Sunnit und in einer muslimischen Gemeinschaft aufgewachsen. Aber diese Ressentiments beunruhigen ihn nicht: „Sie haben wahrscheinlich Angst vor einer Islamisierung. Aber wir sind keine radikalen Islamisten, nur, weil wir fünfmal am Tag beten.“

„Ich will nicht auf dem Meer sterben“, sagt Isa, 24. Trotz seiner Angst will auch er die Flucht wagen.

Tatsächlich flieht Aaref selbst vor religiösen Extremisten, die in seinem Viertel immer mehr Fuß fassen. Lea Baroudi kennt diese Probleme der jungen Menschen in Tripolis Problembezirken: Sie ist Gründerin der Nichtregierungsorganisation March, die in Bab al-Tabbaneh und Dschabbal Mohsen Kulturprojekte organisiert. „Wer in Armut und gesellschaftlich marginalisiert aufwächst, ist besonders einfach zu manipulieren. Es gibt in Tripoli radikal islamistische Gruppen, die dort Mitglieder rekrutieren“, sagt sie.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Die neuinterpretierte „Hidschra“ – die Auswanderung aus Tripoli – habe zwar in diesem Jahr stark zugenommen, sagt Baroudi, doch eine Neuerscheinung sei sie nicht. Schon während des Bürgerkriegs verließen Hunderttausende den Libanon. Schätzungen zufolge leben über 13 Millionen Libanesen im Ausland. „Obwohl der libanesische Bürgerkrieg vor über 25 Jahren beendet wurde, ist in Tripoli die Zeit stehen geblieben. Viele wollten weg, wussten aber bisher nicht wie. Jetzt sehen sie das Meer als Ausweg“, sagt Baroudi.

 

Baroudi hat während ihrer Arbeit in Tripoli mit jungen Menschen gesprochen, die so schnell wie möglich das Land verlassen wollen. „Wir warnen sie davor, dass ihre Vorstellung von einem neuen Leben nicht der Realität entspricht. Und dass sie schon auf dem Weg dorthin im Mittelmeer ertrinken könnten“, sagt Baroudi und fügt resigniert hinzu: „Die neue Auswanderungswelle ist ein Schrei nach Hilfe, aber unsere Politiker werden wieder einmal nicht hinhören.“

 

„Ich will nicht auf dem Meer sterben“, sagt Isa. Der junge Mann steht am Hafen von Tripoli und starrt auf die ruhige See, die Hände fest um das Lenkrad seines rostigen Fahrrads geklammert. Hinter ihm liegen morsche Schiffswracks an Land. Die Seemänner am Hafen sagen, dass ein paar der Boote schlicht ausgedient haben, andere kenterten vor der Küste und wurden angespült. In den vergangenen Wochen ertranken drei von Isas Freunden im Mittelmeer auf dem Weg nach Griechenland. „Mein Leben liegt in Gottes Hand. Er bestimmt, was mit mir passieren wird“, sagt Isa tapfer. Doch es scheint, als sei er von seinen eigenen Worten nicht so recht überzeugt. Obwohl Isa nur ein Jahr jünger ist als Aaref, wirkt er viel zerbrechlicher. Seine Augen blicken stets fragend. Seine Gesichtszüge sind weich, fast kindlich.  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Isa kommt aus einem Viertel, das neben Bab al-Tabbaneh und Dschabbal Mohsen liegt. Die Mutter starb, als er acht Jahre alt war. Seitdem wohnt er allein mit seinen zwei Brüdern und dem Vater. Im Gegensatz zu vielen Gleichaltrigen, machte er sein Abitur und schloss eine Ausbildung als Hotelier ab. „Als Schüler war ich glücklich, nicht wie andere Jungs auf der Straße abhängen zu müssen. Viele nehmen Drogen und haben sich längst aufgegeben. Probleme werden oft mit Gewalt gelöst“, sagt Isa.

Ein radikaler Sheikh bot Isa an, ihn fürs Kämpfen zu bezahlen. Aber Isa wollte nicht auf Menschen schießen

Als er nach der Ausbildung keinen Job fand, bot ein radikaler Sheikh an, ihn fürs Kämpfen in Syrien oder in Tripoli zu bezahlen. Isa verweigerte. Allein der Gedanke schreckte ihn ab, mit einer Waffe auf Menschen zu schießen, die er vielleicht sogar kannte. Ein paar Wochen vor der Anwerbung starb sein zwölfjähriger Cousin Rabia. Während eines Schusswechsels auf der Straße traf den Jungen eine Kugel in den Kopf. Heute, ein Jahr später, hat Isa Rabias Tod noch nicht überwunden: „Manchmal vergesse ich, was passiert ist, und erzähle anderen, dass ich Rabia gleich abholen und mit ihm zusammen essen, spielen und für die Schule lernen werde.“

 

Der gewaltsame Tod von geliebten Menschen, die Angst ums eigene Überleben, wirtschaftliche Perspektivlosigkeit, ein Leben am Rande der Gesellschaft – Isa will das alles hinter sich lassen. Doch er weiß nicht, ob er als Libanese überhaupt Chancen in Deutschland hat.

 

Isas und Aarefs Beispiele lassen einen mit Fragen zurück. Mit grundsätzlichen Fragen der Flüchtlingskrise: Wer hat überhaupt das Recht auf Flucht nach Europa oder auf einen Neuanfang dort? Wer definiert das? Wird Isa und Aaref zu viel Hoffnung gemacht? Sind sie am Ende vielleicht die Opfer der Auswanderungsbewegung in Tripoli, weil andere ihnen zurufen „Jetzt oder nie!“? Europa wird umzäunt und auf dem Meer wird es stürmischer, denn der Winter naht. Jetzt oder nie?

 

Isa zeigt auf eine blau-weiße Fähre, die in einem abgesperrten Bereich des Hafens anliegt. Knapp 210 Euro kostet das Ticket von Tripoli nach Mersin in der Türkei. Was danach auf ihn wartet, kennt Isa nur aus den Nachrichten: mit Schmugglern nach Griechenland, lange Märsche und Zugfahrten auf der Balkan-Route, tagelanges Warten an Grenzen – Deutschland liegt noch in weiter Ferne. Im Gegensatz zu Aaref wird Isa ohne Freunde reisen. Was fühlt er, so ganz auf sich allein gestellt? Den Blick starr geradeaus aufs Meer gerichtet, die Stirn in Falten gelegt, versuchen seine Lippen, ein Wort zu formen. Dann flüstert Isa einen der wenigen deutschen Ausdrücke, den er kennt: „Angst“.

 

Text: juliane-metzker

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