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Wahlkampf für die kolumbianische Karottenstunde

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Der Kandidat wollte zu den Huren am Muttertag, und so legte Philip Vogt seine geliebte Armbanduhr ab und stieg in einen alten VW-Käfer, um nach Santa Fé zu fahren. Sie waren zu dritt. Eine Sympathisantin aus dem Viertel der Huren, sie sollte führen, Jorge, der einst Priester werden wollte, bevor er in die Politik ging, er sollte sprechen, und Philip Vogt, er sollte die Frauen vorbereiten und fotografieren. Philip Vogt wusste, was ihn erwartete, aber als sie ankamen im bösen Viertel Bogotás, traf ihn der Anblick trotzdem. Er sah Stricher und Huren, dazwischen saßen Junkies, die basuco rauchten, Kokainpaste, auf Zigaretten gezogen, und als er dann diesen Typen erblickte, der beiläufig sein Hemd hob, um den Kolben seiner Waffe aus dem Hosenbund hervor blitzen zu lassen, da war sich Philip Vogt nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee ist, in Kolumbien Wahlkampf für einen Präsidentschaftskandidaten zu machen. Huren statt Christiansen „Antanas wollte es so“, sagt er, sich zwischen die Werkzeuge seiner Arbeit zwängend, Monitore, Computer, Fernseher, DVD-Geräte. „Ihm war es wichtig, am Muttertag die Huren zu besuchen.“ Philip Vogt hat seinen Platz neben der Feindbeobachtung, erster Stock, Cuarto Comunicaciones, gleich gegenüber des Kommandoraums. Sein Bürostuhl ächzt, als er sich setzt. Das Zimmerchen ist bis zum letzten Fleck vollgestellt mit elektronischen Maschinen und den Männern, die sie bedienen, denn von hier aus planen und von hier aus handeln sie in der Wahlkampfzentrale von Antanas Mockus. Dem Kandidaten für das Präsidentenamt Kolumbiens zum Sieg zu verhelfen, hat der Politikstudent Philip Vogt aus Stuttgart-Esslingen versprochen. Es sieht schlecht aus. Um genau zu sein „beschissen“, wie Philip sagt. Die letzten Umfragen waren ein Desaster, die Kommentare der Analysten katastrophal, die Presse mies, an manchen Morgen dachte Philip nur noch: „Ach komm, das bringt doch alles nichts mehr.“ Die Wahl ist schon nächsten Sonntag. Doch dann kamen wieder Momente wie am Muttertag, an dem der Kandidat den Huren Blumen brachte, „die Momente, in denen es dich packt – das hier, das ist Politik.“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Philip im Wahlkampfbüro des Kandidaten Philip sitzt vor seinem Laptop, schlank und schmal, ein Junge von 23 Jahren, der immer eine Wollmütze auf dem Kopf und auf der Brust eine Anstecknadel in Form einer Karotte trägt, das Symbol von Antanas Mockus und seiner Partei, die sich „Visionarios“ nennt, Visionäre. „Politik“, sagt Philip, „interessiert mich sehr – aber nicht bei Sabine Christiansen.“ Für Philip ist deren Talkshow ein Beispiel für jene Politik, die nur mehr um ihrer selbst willen Politik macht. „Das sehe ich sehr kritisch“, sagt er. „Aber Antanas lebt eine ganz andere Art von Politik.“ Bald vier Jahre ist es her, dass Philip Vogt das erste Mal von einem Politiker hörte, so sonderbar, dass alle Geschichten über ihn wie Märchen klangen. Er war damals Zivi in einer Sozialstation nahe der Stadt Cartagena an der kolumbianischen Karibikküste. Die Geschichten erzählten vom Bürgermeister der Hauptstadt Bogotá, dem Mathematikprofessor Antanas Mockus. Um die Stadt zum Wassersparen anzutreiben, ließ sich Mockus unter der Dusche filmen, wie er beim Einseifen das Wasser abdrehte. Als Mockus sich mit Vertretern von Rebellengruppen traf, trauten die Guerilleros ihren Augen nicht: Der Bürgermeister trug Kostüm und Cape eines Superhelden aus den Comics und trat unter dem Namen „Super-Ciudano“ auf, Superbürger. Schließlich sah Philip das erste Mal ein Bild zu diesen märchenhaften Geschichten, und sein Eindruck war komplett: Mockus, der einen Kinnbart trägt, sieht aus wie einer der sieben Zwerge hinter den sieben Bergen. Philip dachte, was alle denken, die das erste Mal von Mockus hören: „Der Typ ist total durchgeknallt.“ Drei Jahre später aber, Philip war längst Politikstudent in Konstanz, lud ihn ein Professor zu einem Vortrag ein. Es sprach: Antanas Mockus. „Das war sehr beeindruckend“, sagt Philip. Ihm erging es, wie es vielen ergeht, die Mockus in der Tat erleben: Der Mann mag verrückt sein, dachte er, aber er hat auch etwas von einem Genie. Mockus, damals nicht mehr Bürgermeister, sondern Gastprofessor einer englischen Uni, schilderte seinen größten Erfolg als Politiker – die „hora zanahoria“. Hinter diesem Wortspiel zwischen „zanahoria“ (Karotte) und „sana hora“, gesunde Stunde, verbirgt sich ein Projekt, mit dem es Mockus gelang, die Mordrate in Bogotá deutlich zu senken. Er hatte die Statistik der Polizei studiert und festgestellt, dass viele Gewaltverbrechen am frühen Morgen geschahen, wenn in manchen Vierteln Bogotás der Alkohol Ausschreitungen befeuert. Mockus verkündete per Gesetz, dass ab ein Uhr morgens der Alkoholausschank verboten sei, zu dieser Stunde beginne die Karottenstunde. Was keiner erwartet hatte: Die Verbrechensrate sank. Seitdem ist die Karotte das Symbol von Antanas Mockus und er selbst Lichtgestalt und Witzfigur der kolumbianischen Politik in einer Person. „Für Deutsche wirkt das alles seltsam“, sagt Philip Vogt. „Aber in Kolumbien ist Antanas eine Sensation.“ In einem Land, das seine Bürger mit bitterem Wortwitz „Locombia“ nennen, weil „loco“ verrückt heißt und nur wenige Worte die Situation ihrer Heimat so gut beschreiben, da ist Antanas Mockus als Politiker eine Ausnahme, allein weil er als ehrlich gilt. Eine Seltenheit im korrupten Kolumbien. Philip Vogt, in einem Konferenzsaal in Konstanz sitzend, dachte sich: „Bingo. Das ist mein Ding.“ Er bot Mockus an, seinen Wahlkampf zu unterstützen. Am 5. März kam er in Bogotá an. „Alles hier“, sagt Philip und umfasst mit großer Geste sein Zimmerchen und die restliche Zentrale des Wahlkampfs, „war ein Taubenschlag.“ Ständig klingelten Telefone, die Faxgeräte surrten, das ganze Haus war voller Menschen, die Pressemitteilungen vorbereiteten und Presseartikel auswerteten, die Strategien des politischen Gegners analysierten und eigene Strategien erdachten. Philip erlebte Politik so unmittelbar wie nie zuvor. Es packte ihn. 16 Stunden arbeitete er an manchen Tagen, und daran hat sich bis heute wenig geändert. Philip ist für die Medienbeobachtung zuständig, jeden Morgen bringt ihm ein Kurier zur Analyse alles, was Presse, Rundfunk und Fernsehen am Tag zuvor über die Wahl brachten, außerdem setzen sie ihn als Kampagnenfotograf ein. Philip stöpselt seinen Laptop aus. Er will jetzt eine Zigarette rauchen, das geht nur draußen. Sie rauchen hier alle, die Analysten, die Pressesprecher, die zur Sicherheit abgestellten Polizisten; täten sie es drinnen, sie könnten nicht mehr arbeiten. Philip nimmt seinen Laptop mit. Er ist voll mit Fotos, Philip weiß längst nicht mehr, wie viele es sind, „3000“, sagt er, „vielleicht 4000.“ Kämpfen für zwei Prozent Er klickt sich durch die Politik, während er vor der Wahlkampfzentrale sitzt und an seiner Zigarette saugt wie an einem Strohhalm. Er hat es alles erlebt, die großen Fernsehduelle der Kandidaten und die kleinen Hintergrundgespräche mit Journalisten, er begleitete Mockus zu Arbeiterinnen auf Blumenfeldern und zu Krawattenträgern auf Diskussionspodien, meist im Tross des Kandidaten, einmal auch in dessen gepanzertem Wagen. „Immer hinter den Kulissen“, sagt er, „sehr spannend.“ Er hat die Höhenflüge erlebt, wenn sich der Kandidat wacker schlug, und die Niedergeschlagenheit, als die Partei Mockus’ bei den Parlamentswahlen nicht einen einzigen Sitz errang. Er hat Vernunft erlebt, wenn Antanas Mockus sein Programm für ein neues Kolumbien präsentierte, und Wahnsinn, als der Kandidat glaubte, dieses Programm am besten mit pyramidenförmigen Plastikhüten symbolisieren zu können. Und jetzt? „Wir werden wohl verlieren“, sagt Philip. Eine Woche vor der Wahl sagen die Umfragen, dass Mockus zwei Prozent bekommt. „Es wird trotzdem weitergehen“, sagt Philip, steckt sich noch eine Zigarette an und erzählt eine kleine Geschichte. Es war in der Schule und Philip, sagt er, „ein Großmaul“. Als ihn eines Tages seine Vertrauenslehrerin fragte, warum er eigentlich nicht in der SMV dabei sei, der Schülermitverwaltung, antwortete Philip, dass er erstens keinen Bock habe und zweitens sowieso alles Scheiße sei, was die SMV mache. Da sagte seine Lehrerin nur einen Satz, Philip hatte diesen Satz lange vergessen, aber als er anfing, Politik zu studieren, ist er ihm wieder eingefallen. „Nörgeln“, sagt Philip, „ist einfach. Aber statt zu nörgeln, sollte man lieber handeln.“ So nett hatte es seine Lehrerin damals nicht ausgedrückt. Sie hatte gesagt: „Dann mach es doch besser.“ Um nichts anderes, sagt Philip, gehe es in der Politik, und um nichts anderes gehe es Mockus und seinen Visionären: zu versuchen, es besser zu machen. „Dafür“, sagt Philip, „muss man nicht Präsident sein.“

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