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Von Schönheit eingelullt

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Ich bin spießig geworden – und München ist schuld daran. Zumindest ein bisschen. Diese Erkenntnis überfiel mich plötzlich und ohne Vorwarnung, als ich neulich im Supermarkt vor dem Weinregal stand und mit mir haderte, ob der sizilianische Cabernet Sauvignon mit dem edel anmutenden Etikett wohl gut genug schmecken würde, um ihn meinen beiden alten Freunden vorzusetzen. Ob er überhaupt zum geplanten Drei-Gänge-Essen passen würde, zu dem ich sie eingeladen hatte. Ob ich vielleicht eine teurere Flasche wählen, überhaupt Wein im Supermarkt kaufen sollte. Ich verfluchte mich, weil ich von der Farbenlehre im Spektrum Rot, Rosé bis Weiß nicht den Hauch einer Ahnung hatte.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Ich erschrak, weil ich so nie hatte werden wollen und erst recht nicht mit 25. Wir hatten uns lange nicht gesehen und hätten daher auch über einem Topf Miracoli sitzen und dazu den Discounterwein trinken können, den wir jahrelang zu allem getrunken hatten, weil er nur 2,69 Euro kostete und nicht allzu viele Kopfschmerzen hinterließ, wenn wir mal zu viel davon erwischten. Der Abend wäre trotzdem perfekt gewesen. Was war geschehen, dass ich mir plötzlich solche Fragen stellte und fürchtete, dass der Abend an einem schlecht gewählten Rotwein scheitern könnte?

Während ich mit dem hübsch etikettierten Cabernet Sauvignon unterm Arm nach Hause lief, fielen mir noch andere beunruhigende Tendenzen einer Entwicklung auf, die ich als Frühvergreisung bezeichne. Seitdem sehe ich sie immer wieder, an mir, an Freunden, an Bekannten. Zumindest an denen, die ebenfalls in dieser Stadt leben. Die Symptome sind stärker als bei Freunden in anderen deutschen Millionenstädten. Nicht nur haben wir einen nicht altersgemäßen Hang zu Cabernet-Sauvignon entwickelt. Wir bekommen auch ein schlechtes Gewissen, wenn wir einen Sonntag verkatert im Bett mit einer Kopfschmerztablette und unserer Lieblingsserie verbringen, statt auf einen Berg zu klettern – wenn wir schon nicht daran arbeiteten, Punkte auf unserer To-Do-Liste für Studium oder Job abzuhaken. Wir gehen nicht mehr bei Rot über die Straße. Aus Prinzip, nicht etwa, weil ein Auto oder ein kleines Kind in der Nähe waren. Wir tun immer seltener Dinge, von denen wir im Nachhinein womöglich denken könnten, wir hätten damit unseren Tag vergeudet. All das: eindeutig Symptome unserer Frühvergreisung. Wir sind auf 24/7-Aktivität, Produktivität, Regeltreue und Risikovermeidung getrimmt. Schlendrian, Rumspinnen und Exzess haben sich unbemerkt aus unserem Leben verabschiedet. München ist einfach nicht der richtige Ort für dieses Trio.

Niemand kommt hier her, um sich auszuprobieren, um zu schauen, was der Tag und das Leben bringen. Dafür ist hier zunächst einmal alles zu teuer, ob WG-Zimmer, Döner oder einmal Haare Schneiden. Diese Stadt können sich nur emsige, pflichtbewusste Arbeitsbienen leisten, also schuften wir, Jobs gibt es genug. Schon die bloßen Zahlen zeigen, was für ein Biotop wir bevölkern: Die Arbeitslosenquote liegt gerade mal bei vier Prozent, die Kaufkraft ist ein Drittel höher als im Bundesdurchschnitt, ein Quadratmeterpreisvon 14 Euro ist bei Neuvermietungen keine Seltenheit.
 
Man zahlt jedoch nicht nur 100 Euro mehr für ein Zimmer als in einer anderen Stadt, die sich dann nicht in Kebap und Ponynachschneiden investieren lassen. Man zahlt vor allem damit, dass man immer mehr arbeitet und ein schlechtes Gewissen bekommt, wenn man den Eindruck hat, unproduktiv zu sein. Als ich vor zwei Jahren zwischen zwei WG-Castings tagsüber durchs Glockenbachviertel stolperte, war ich irritiert, wie leer die Cafés waren. Wollte ich wirklich in diese Stadt ziehen, in der sogar hier, in ihrem Epizentrum der Kreativen und Möchtegernkreativen, niemand erst am frühen Nachmittag frühstückt oder dabei zumindest nicht gesehen werden will? Jetzt muss ich gestehen: Es ist lange her, dass ich einen ganzen Tag im Café vertrödelt habe.

München ist auch nicht der Ort, an dem es einem leicht fällt, Dinge anders zu machen oder Risiken einzugehen. Risiko beginnt hier schon beim falschen Wein, und wenn es um die größeren Fragen des Lebens geht, wagt man noch viel weniger: Studium hinschmeißen? Versuchen, Träume zu verwirklichen? Es ist nicht bloß, dass man sich das Scheitern finanziell nicht leisten kann. Dazu kommt das Gefühl, dass hier jeder, der zweifelt oder unvernünftig ist, äußerst kritisch beäugt wird. Stadt und Bewohner pochen auf Konformität. So, wie die Dinge hier laufen, haben sie schon ihre Richtigkeit. Die Münchner strotzen vor Selbstgewissheit, weil sie überall Klassenbeste sind – wirtschaftlich, auf dem Fußballplatz, bei der Lebensqualität.

Stichwort Lebensqualität: Im idyllischen München fällt es schwer, sich nicht wohl und aufgehoben zu fühlen. Föhn, Biergartengemütlichkeit und das kitschige Disneylandpanorama der gelben Theatinerkirche vor knallblauem Himmel machen auf eine einlullende Art sehr glücklich. Vielleicht haben die Konformitätswächter also einfach Angst, dass ihnen jemand ihr Käseglockenidyll zerstört. Anders ist kaum zu erklären, wie penetrant hier auf Regeltreue gepocht wird. Wenn man mit dem Fahrrad die Einbahnstraße in der falschen Richtung passiert, ist Verlass darauf, dass eine Rentnerarmada zetert, obwohl weder sie oder sonst jemand davon tangiert wird. Ebenso muss man davon ausgehen, dass die illegale Party unter der Isarbrücke spätestens um halb zwölf von der Polizei aufgelöst wird, auch wenn keine Nachbarn existieren, die sich beschweren könnten.

Als ich nach München zog – selbstverständlich, weil sich hier eine berufliche Chance auftat – , hatte ich hauptstadtarrogante Mitleidsbekundungen meiner Berliner Studienfreunde im Gepäck und eine große Angst vor P1 und Menschen mit Polohemd, gebleachten Zähnen und protzigem Auto. Ich wollte nicht in die „Provinz“ zurück, nachdem ich der westfälischen Provinz einige Jahre zuvor entflohen war. Schnell stelle ich fest, dass Mitleid und Bonzenangst unberechtigt waren, dass es ein München jenseits der Schickeria gibt. Länger dauerte es zu erkennen, dass die Provinz in vielen Köpfen steckt. Weil München, anders als andere große deutsche Städte, so satt und gemacht ist. Alles ist fertig, es gibt kaum Brachflächen, die bespielt werden wollen. Die wenigen, die es gibt, werden fast immer von den gleichen Leuten besetzt und damit auch ihrer Perspektive auf die Welt. Sogar die Subkultur ist hier institutionalisiert. So meint man, eh schon zu wissen, was einen erwartet, wenn die Subkulturelite ein neues Projekt präsentiert. München ist voller solcher Gewissheiten. Vielleicht ist auch das ein Grund, warum einem das Anderssein hier so schwer fällt.

Sogar nachts, wenn der Exzess regieren sollte, passieren selten verrückte Dinge. Es ist unvorstellbar, dass ein Fremder einem auf dem Heimweg anbieten könnte, mit ihm noch Pilze zu konsumieren. Das ist schade, auch wenn man diese Option nicht unbedingt einlösen wollen würde. Stattdessen ist schon um elf draußen Schluss. Es ist bezeichnend, dass es in dieser Stadt einen sogenannten 24-Stunden-Kiosk gibt, weil sonst nirgendwo zu später Stunde noch eine Tiefkühlpizza oder Kaugummis aufzutreiben wären. Es ist symptomatisch, dass alles, was sich noch jung fühlt, aufjault, weil diese eine Kneipe schließen muss, in der man auf den Tischen tanzen kann, sich Fremde in den Armen liegen und überhaupt jeder so sein kann, wie er ist. Und dass einem für Sonntagmittag maximal ein Club einfällt, in den man noch zur After-Hour gehen könnte. Dass man sich zu dieser Zeit als Frühvergreister auf dem Weg zum Gipfelkreuz befindet, liegt eben auch daran, dass München keine der Ausschweifung förderliche Infrastruktur besitzt.

Und während man solchen Gedanken nachhängt, beginnt sich München schon wieder an einen zu kuscheln. Fragt, ob man nicht mit auf ein Helles runter an die Isar kommen mag. Dann sitzt man am Wasser, fühlt sich diesig glücklich – und will nie wieder weg.

Text: juliane-frisse - Illustration: katharina-bitzl

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