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Vom Versuch einer Internetpause
Elf Stunden und sechs Züge hinter Berlin liegt die Freiheit. Sie ist blau. Sie ist geduldig. Sie erwartet uns – an der dänischen Nordwestküste. Wir sind zu dritt, wie die Musketiere, eine erprobte und eingeschworene Gemeinschaft gegen die Geschwindigkeit und die Daueranwesenheit der Internetgemeinde. Eine Entschleunigungstruppe. Wir wollen die Zeit nutzen. Wir alle haben Computer dabei, aber auch Bücher und Notizbücher, wir wollen schreiben, ohne Ablenkung, nur Wind und Wellen und Wörter und wir. Nur ein kleines Stück noch. Wir steigen in den letzten Zug, der aus zwei kleinen Waggons besteht. Eingleisig führt die Spur nach Norden. Der Zug rollt los, eine Frau stürzt auf den Bahnsteig, der Zug nimmt Fahrt auf, die Frau streckt den Arm nach oben und winkt, es quietscht, der Zugführer stoppt. Die Frau steigt zu, der Zug fährt wieder an. In dem Moment wissen wir, für die nächsten drei Wochen wird alles anders sein. Ein bisschen wissen wir über unsere neue Wirklichkeit: Sie ist ohne Internet, sie hat ein reetgedecktes Dach, sie liegt nur einen Steinwurf entfernt von den Dünen. Ja, man kann direkt einen Kiesel vom Boden aufheben, ausholen, und los. Der Zug legt sich in die Kurve und plötzlich riechen wir das Meer und hören unsere Herzen klopfen. Das Ferienhaus kennen wir schon von unserem Ausflug voriges Jahr. Die geschmacklich fragwürdige Einrichtung ist uns wohlig vertraut. Als Kind habe ich beinahe jeden Urlaub in einem solchen nordischen Ferienhaus verbracht. Die altgriechischen Lampen-Imitate, die rückwärts laufenden Uhren und die mit Bauernmalerei verzierten, kindskörpergroßen Vasen hätten mir gefehlt, wenn man sie entfernt hätte. Eine Flasche Wein steht zur Begrüßung da. Und ein Zettel der Vermieter. Wir überfliegen die paar Zeilen, die sie dazugeschrieben haben, unser Blick fällt auf die fett und riesenhaft gedruckten Zahlen- und Buchstabenfolgen: der Internet-Code. Wir werden blass. Mit Kulis bewaffnet reißen wir die Arme hoch, kreuzen die drei Stifte in der Luft, und schwören, das Internet nicht zu benutzen. Wir machen uns nichts vor: Wenn der Code einmal im Computer eingegeben ist, wird unser Wille gebrochen sein. Mit geballten Fäusten stehen wir in den Dünen. Nur noch ein Hügel trennt uns vom Meer. Wir schließen die Augen, wir wollen den Moment genießen, verinnerlichen, nie mehr vergessen. Ich konzentriere mich, lausche der Brandung und für einen Moment klingt sie genauso wie das immergleiche Rauschen der Autobahn, in deren Nähe ich aufgewachsen bin. Das also ist mein Gedanke, der bleibt. Ich bin die erste, die einknickt. Aus gutem Grund selbstverständlich: Arbeitswichtiges wurde zu Hause vergessen, meine Pflanzensitterin geht nicht ans Telefon – also muss ich schnell eine Mail schreiben, damit sie es sucht und nachschickt. Als ich das Mailprogramm öffne, rattert das Postfach los, rot leuchtet der Posteingang auf, und mir steigt die Schamesröte ins Gesicht.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
"Wir sind viel weniger zusammen als im vergangenen Jahr": Unsere Autorin Anne Köhler verfertigte die Illustration ihres Textes gleich selbst. Hier das Ergebnis.
Der nächste Supermarkt ist drei Kilometer entfernt. Wie eine Expedition machen wir uns auf, mit Rucksäcken und festem Schuhwerk. Mit wachen Augen und weit geöffneten Herzen treffen wir auf dem Weg eine langsame haarige Raupe, einen bienenfleißigen Ameisenhaufen, ein Pony und ein Pferd, viele tote Frösche. Statt Geier kreisen hysterisch zwitschernde kleine Vögel über unseren Köpfen. Auf dem Rückweg machen wir Rast und verzehren etwas vom gekauften Proviant. Nie haben die Dinge so gut geschmeckt, nie sind wir so weit für eine Dose Bier gelaufen. Wir sind glücklich.
Nach fünf Tagen sind wir alle vernetzt. Wir beteuern uns gegenseitig und ungefragt, dass es uns überhaupt nicht beeinträchtigt, so diszipliniert, wie wir damit umgehen. Und doch: wir sind viel weniger zusammen und in Dänemark, als im Jahr zuvor.
Wenn wir gemeinsam zum Meer gehen, schließen wir unsere Computer im Sideboard ein. Wir schalten sie nicht aus, sondern klappen bloß die Deckel herunter, und die drei Maschinen atmen leise und gleichmäßig wie in Kälteschlaf versetzt im muffigen Schrankinnern vor sich hin. Kommen wir zurück, werden sie sofort aufgeklappt und schockartig ins Leben zurückgeholt.
Waren wir im letzten Jahr drei Wochen lang nur mit uns dreien und unseren Texten beschäftigt, fern von allem anderen, so sitzt dieses Jahr die ganze Welt mit uns im Wohnzimmer, in der Küche, in den Schlafzimmern, auf der Terrasse.
Nur am Meer bin ich noch richtig allein. Erhaben spült es eine Welle nach der anderen vor meine Füße. Vollkommen und ehrfurchtgebietend erstreckt sich das Wasser bis zum Horizont. Und mit jeder Welle schwappt das Gefühl meiner eigenen Unzulänglichkeit in mein Bewusstsein.
Die erste halbe Stunde meines Morgens verbringe ich schon wieder auf meinem virtuellen Landwirtschaftsbetrieb, von dem ich mich eigentlich hatte lossagen wollen.
Für diese Abhängigkeit gibt es natürlich auch einen guten Grund: ein Kindheitstrauma. Es hat mit einem alten C64 meines großen Bruders und der Ladehemmung der Siegerzeremonie eines langatmigen Strategiespiels zu tun.
Schon als Kind habe ich mich zu Miniaturwelten aller Art magisch hingezogen gefühlt – virtuelle, Spielzeug- oder Eisenbahnlandschaften, oder selbstgebaute Guckkästen.
Das Meer ist so groß und so unbeeindruckt von mir und meinen Rechtfertigungen, dass es keinen Sinn mehr ergibt, mich selbst zu belügen. Ich habe mich einfangen lassen. Ich vertue meine Zeit damit, blökende Schafe an Freunde zu verschenken (über die ich viel mehr weiß, als ich mit ihnen erlebt habe) – und die Schafe sind nicht etwa schön oder gar individuell, sondern gleichen sich wie Dolly dem Klon.
Ich erinnere mich an die Worte eines Freundes, der sich ein Programm aus dem Internet heruntergeladen hat, das ihm für einen beliebigen Zeitraum den Internetzugang sperrt und welches „freedom“ heißt.
Wo liegt heute die Freiheit?
Wenn man am Meer steht und die Erhabenheit der Natur spürt, ist es ziemlich leicht, beim Denken an große Fragen zu geraten.
Will ich mein Leben wirklich so führen?
Die Fülle an Informationen und Input macht mich nervös, lenkt mich vom Jetzt ab. Seit einiger Zeit fällt es mir schwer, mich lange auf eine einzige Sache zu konzentrieren. Als Kind gelang mir das mühelos und ausdauernd.
Bin ich überhaupt noch in der Lage, allein zu sein?
Ich drehe mich gegen den Wind, schließe die Augen, es rauscht, wie ein Fernseher früher gerauscht hat, als es den Sendeschluss erfreulicherweise noch gab. Als das Programm noch nicht aus immerwährenden Wiederholungen bestand.
Das Meer ist gnadenlos und ungesprächig. Ich spähe lange auf den Horizont. Kein Ratschlag in Sicht.
Nur eine Stunde noch. Wir stehen mit unseren Koffern in den Dünen und blicken aufs Meer. Keiner sagt ein Wort. Wir drehen um. Wir drücken auf einen Knopf, damit der Zugführer weiß, dass wir einsteigen wollen.
Ein paar Meter hinter Hamburg empfängt uns ungeduldig die Realität. So muss es wohl sein, wenn in einen schwerelosen Raum die Schwerkraft plötzlich und ohne Vorwarnung zurückkehrt.
Wir stehen auf falschen Gleisen, fahren in falsche Richtungen, fahren gar nicht mehr, steigen um, fahren zurück, fahren wieder los, hören hilflosen Schaffner- und Seelsorgerstimmen aus den Lautsprechern zu, die uns raten, das ganze als Abenteuer zu betrachten. In Spandau steigen wir mit über zwei Stunden Verspätung aus, ein Team aus Notärzten stürmt mit einer Trage an uns vorbei in den Zug.
Als ich nach Mitternacht in meiner Wohnung ankomme, ist es still. Die Pflanzen heben mir müde die Blätter entgegen und fallen wieder in die Schatten zurück. In mir drinnen rauscht es gewaltig, erst nach Stunden gelingt mir das Einschlafen.
Am nächsten Tag verabschiede ich mich von meiner virtuellen Farm. Es fällt mir leichter als gedacht. Das Internet-Kabel, auf das ich von jeher bestanden habe, fixiere ich an einem kleinen Tisch im Flur. Ein eigens gebauter Selbstschutz vor zu viel Input und Ablenkung. Endlich sitze ich wieder allein mit meinem Text und meinen Gedanken am Schreibtisch.
Später merke ich, dass mir die Miniaturwelten doch ein bisschen fehlen. Ich gehe raus und spaziere zum Modellbauladen.
Zu Hause angekommen fange ich an mit einer leeren Bodenplatte. Stunden vergehen. Aber sie vergehen anders als im virtuellen Raum. Im virtuellen Raum lasse ich mich berieseln, muss selbst nicht denken, streife flüchtig durch die Gegend. Die Wahrnehmung funktioniert eher aus dem Augenwinkel, alles zerfasert, wenig bleibt.
Die Landschaft, die jetzt langsam vor meinen Augen Gestalt annimmt, ist dagegen zwar sehr konkret, lähmt aber meine Gedanken keineswegs. Die driften ab, schlagen sich in der ein- oder anderen Notiz nieder, entwickeln sich weiter.
Als ich fertig bin, ist es dunkel geworden. Und der Verkehr draußen auf der Straße klingt ein bisschen wie das Meer. Die Welt scheint wieder richtig herum.
Text: anne-koehler - Gestaltung und Foto: Autorin