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Tolles Früher, blödes Heute
Am „Boxi“ ist nichts los. Der Boxhagener Platz in Friedrichshain ist abgesperrt, in den Cafés sitzen ein paar Bohos und Lohas und trinken Weißwein. Weil hier nix los ist, fährt ein Sammelsurium von Ausgehwütigen in den Mauerpark. „Wenn was abgeht, dann da“, sagt einer. Mauerpark also. Eine überfüllte Straßenbahn kriecht rüber zum Prenzlauerberg. „Watdenn watdenn watdenn?“, kreischt ein Glatzkopf mit Ziegenbart an der Max-Schmeling-Halle einen Polizisten an, der ihn bittet, außenrum zu gehen. „Was machst Du heute noch? Ich mal bunte Bilder in meinem Kopf. LSD, lala!“ Aber das sagt er zu sich selbst. In seinen Händen zwei Plastikflaschen mit Eigenmischung. Glasflaschen dürfen nicht in den Mauerpark. Und drinnen sind nur Hippies. Sie tanzen unter blühenden Kirsch- und Fliederbäumen, die vom Flutlicht des Stadions angelächelt werden. Ein alter Mann macht Riesen-Seifenblasen und dazu trommelt eine Percussion-Truppe. Die Tänzerinnen tragen lange Röcke. Sie springen und kreischen auf ihre Art, aber nett eben und was nett ist, ist immer auch langweilig. „Scheiß Hippies“, sagt einer, der auf den Rängen sitzt, aber nur leise. Runter spült er alles mit einem großen Schluck Bier aus seinem Plastikbecher. Zwei Jungs tragen weiße Schilder, auf denen „Free Hugs“ steht, und verteilen Umarmungen. Dann tanzen alle eine Polonaise.
Vielleicht passiert ja was
Früher war alles anders. Früher, früher, hört man ständig. Da haben sie Bolle, den Supermarkt geplündert. Der ist dann ausgebrannt, weil ein Pyromane ein Feuer gelegt hat. Früher hat die ganze Rhetorik auch noch gepasst: Bullenschweine, Schweinesystem, Revolution! „Scheiß G8“ könnte man rufen, aber das war ja auch letztes Jahr. Tolles Früher, blödes Heute. Heute kommen sie alle nur noch um zuzugucken. Vielleicht passiert ja was, vielleicht ist man dabei, am legendären 1. Mai in Berlin, bei den Krawallen. Vielleicht – und für diesen Gedanken schämt man sich dann doch ein bisschen – ist man sogar dabei, wenn was wirklich Schlimmes passiert. Geschichte ist ja fast immer schlimm und Berlin ist hart.
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Bloß: Wenn alle nur noch zugucken, macht eben keiner was. Und die drei Germanistikstudentinnen sehen auch eher bekifft als nach Weltrevolution aus. „Wie Engel“, meint Axel mit der Hornbrille. „Musste mal drauf achten, wenn die Bullen das Räumen anfangen, dann stehen sie oben. Der Mauerpark ist ja wie ein Vulkan. Drinnen sind wir und oben die Bullen. Die postieren sich dann auf dem Wall und haben das Flutlicht im Rücken. Die sehen aus wie Engel. Das musste fotografieren!“
Es ist halb zwei in der Nacht. Ein kleiner Punk mit Sonnenbrille schmiegt sich an ein kleines, stinkendes Lagerfeuer aus Plastikflaschen, als wäre es eine Schmusedecke. Plötzlich geht das Gejohle los, eine Gruppe Punks skandiert „Haut ab! Haut ab!“ Zwei Polizisten aus dem Bereich „Konfliktmanagement“ – die mit den gelben Westen – löschen das Feuer. Ein Trupp schwarz gekleideter Polizisten – das sind die gefährlichsten – stürmt von den Hängen herab. Eine Flasche fliegt, und von beiden Seiten bricht ein Blitzlichtgewitter los. „Radikale Linke, stark wie noch nie!“, rufen die Punks und laufen weg. Auch die Schwarzen ziehen sich wieder zurück auf die Hänge. Der kleine Punk ist sauer, weil er auch Wasser abkriegt und jetzt seine Hose wieder trocknen muss. Noch drei-, viermal geht das so. „Det is’ alles nich’ mehr so, wie es mal war“, sagt ein Beamter. Kurz vor drei geht die Polizei. Ein dünner Junge läuft einem der Gorillas hinterher: „Was soll denn das jetzt? Wieso geht ihr schon?” Morgen ist noch ein Tag, morgen ist der 1. Mai, morgen geht vielleicht wirklich was ab.
Um 17 Uhr am nächsten Tag schiebt sich ein tanzender, bunter Demowurm durch die Wrangel-Straße, die Synthese aus Love Parade und politischem Protest. Geld gibt es nicht mehr, weil alle Bankautomaten im Bezirk verriegelt sind. Ein androgyner, ganz in rosa gekleideter Punk trägt einen Kasten vor sich her, auf dem steht „Deconstructionism“. Die Auswahl der Parolen ist eher hedonistisch als revolutionär: „Luxus, Liebe, Anarchie“, „Revolution to sell. Buy one, get two!”, „Utopie for free”, „Superkonsum – alles muss raus” und „I fuck – you suck – Streik“. In der Straße zwischen Lidl und McDonalds hält ein Sprecher der Hedonistischen Internationale – das sind die, die ARD-Sendung Polylux einen fingierten Speed-User in die Sendung gemogelt hatten – eine Ansprache: „Heute reden wir davon, wie wir dem Kapitalismus in die Fresse hauen!“ Dann sagt er ziemlich oft das Wort „Scheiße“: Dass Lidl und McDonalds nur ein Teil der Scheiße seien, der Kapitalismus aber die ganze Scheiße. Dass Klimawandel, Medienspree und Mieterhöhungen scheiße seien und: „Scheiße ist auch, wenn Hartz IV nicht reicht, um tanzen zu gehen.“ Alle jubeln, dann geht’s tanzend weiter. In der Lausitzer Straße guckt eine Frau im Tschador mit zwei kleinen Kindern amüsiert aus dem Fenster.
„Wie in Frankreich!“
Gegen 19 Uhr beginnt die Antifa-Demo am Kottbusser Tor mit einer Rede: Deutsche Soldaten plündern, morden, vergewaltigen in Afghanistan und beteiligen sich am Heroinhandel und auch an China könne man nicht einfach so herumkritisieren, ohne die deutsche Kolonialschuld zu bedenken. Die Reden interessieren kaum jemanden: „Wann geht’s denn jetzt endlich los? Ist ja schlimm“, sagt einer. Zwanzig Minuten später marschiert der Schwarze Block voran, ziemlich schnell und auch ziemlich lange: Vom Kotti zum Schlesischen Tor und wieder zurück.
Zwei Stunden später am Kottbusser Tor brennt es. Kurz davor haben Autonome den Wagen des Berliner Polizeipräsidenten attackiert. Revolutionäre sind hier nicht: Die meisten sind Schaulustige, die bei allem, was im Entferntesten nach Krawall aussieht, Fotos machen. Während sich ein korpulenter junger Mann seine Zigarette in den Flammen anzündet, springt eine Gruppe junger Türken aufgeregt hin und her und schiebt einen Müllcontainer in die heiß erwarteten Flammen. Flaschen fliegen. „Nie wieder Deutschland, nie wieder Deutschland!“, skandiert die Menge. „Wie in Frankreich!“, rufen ein paar Türken. Ein Dreikäsehoch im weißen Trainingsanzug posiert auf dem Container, um ihn herum schießen die Fotografen ihre Bilder. Alle warten auf die Polizei.
Aber die Polizei lässt sich Zeit. Soviel Zeit, bis einige fragen, wann sie denn endlich kämen, langsam werde es langweilig. Die Polizei kommt dann tatsächlich und falls man es noch nie erlebt hat: Es ist unangenehm, ungewollt adrenalinhaltig und fühlt sich ein bisschen so an, wie man sich Krieg vorstellt – also gar nicht mehr lustig, sondern sehr echt und potenziell schmerzlich. Durch ihre Schutzanzüge wirken die Polizisten doppelt so groß und breit. Ein Stoßtrupp von 20 Mann rennt mit Schlagstöcken auf die Menge zu. Alle stürmen zurück, Tische und Stühle des Asia-Imbisses fliegen um, Flaschen fliegen. Denken funktioniert nicht mehr. Wer jetzt stolpert, hat ein Problem. Ein oder zwei Randalierer nimmt die Polizei mit. Blitzschnell verschwinden sie unter Polizeigrün und werden nicht mehr gesehen. Die ganze Aktion dauert nur kurz, dann haben Polizisten und Mob ihre Positionen gewechselt und stehen sich wieder gegenüber.
Gegen Mitternacht ist das Kottbusser Tor fast vollständig geräumt. Die Revolution geht zu Ende. Um die Ecke in der Oranienstraße spielen die Musiker noch immer auf den Bühnen des Myfestes, ein Mädchen uriniert auf die Straße und der türkische Bierverkäufer meint, früher sei das alles ganz anders gewesen. „Aber das Geschäft war heute sehr gut.“
Text: philipp-mattheis - Fotos: Sandra Hartleb