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Sieben Stunden für den Ausstieg

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Am 16. Dezember 2010 gegen 13 Uhr schiebt die 28-jährige Sara den linken Arm in ein Rohr, das in das Gleisbett der Schienenstrecke zwischen Greifswald und Lubmin einbetoniert ist. Das Schloss, das in dem Rohr befestigt ist, rastet ein. Sara ist fest gekettet. Ihr gegenüber liegt der 29-jährige Peter, auch sein Arm steckt fest in dem Betonklotz. In den vergangenen Tagen ist Schnee gefallen, es weht ein frischer Wind. Die Höchsttemperatur an diesem Tag beträgt minus zwei Grad.
  Etwa viertausend Polizeibeamte aus dem ganzen Bundesgebiet sind an diesem Tag rund um das so genannte Zwischenlager Nord bei Lubmin im Einsatz. Dort lagert in einer Halle auf dem Gelände des ehemaligen Atomkraftwerks „Bruno Leuschner“ so genannter schwach- und mittelstark strahlender Atommüll, der in erster Linie aus den einstigen Atomkraftwerken der DDR stammt. Für den 16. Dezember ist ein neuer Castor-Transport angekündigt, diesmal mit Müll aus dem Kernforschungszentrum in Karlsruhe und dem Atomschiff Otto Hahn.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



  „Ich war glücklich, dass wir es geschafft hatten“, erinnert sich Sara (die ihren ganzen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte) später an die ersten Minuten auf der Schiene, „ich wäre gerne in die Luft gesprungen oder hätte die anderen umarmt, aber das ging natürlich nicht.“

  Viel Zeit haben die Aktivisten von Robin Wood nicht um sich über ihren Erfolg zu freuen. Nur ein paar Minuten später werden Polizisten, die entlang der Gleise Patrouille laufen, auf sie aufmerksam. Für die Befreiung aus dem Gleisbett müssen Experten und Spezialwerkzeug angefordert werden. Die Aktion ist für alle Beteiligten eine heikle Sache. Für Sara und Peter weil direkt an ihren Körpern mit schwerem Werkzeug hantiert wird. Für die Polizisten, die für ihre Sicherheit verantwortlich sind, weil ihnen die Zeit davonläuft. Nur 150 Meter entfernt von den Angeketteten steht der Zug mit der brisanten Fracht und wartet auf die Weiterfahrt.

  Gegen 16 Uhr ist es dunkel und es wird langsam immer kälter. Sara und Peter tauschen Teile ihrer vereisten Klamotten mit Hilfe von Begleitern gegen trockene Sachen und trinken heißen Tee mit einem Strohhalm aus einem Becher. Bis der Zug seine Fahrt wiederaufnehmen kann ist es 20 Uhr. Sieben Stunden später als geplant wird er schließlich im Lubminer Zwischenlager ankommen. Sieben Stunden, in denen Sara sich nicht ohne Hilfe kratzen, nicht auf Toilette gehen und kaum bewegen kann. Sieben Stunden, die sie im Liegen auf einer Isomatte verbringt, unter Decken und eingehüllt in viele Schichten Kleidung.
  Bis Sara unter eine heiße Dusche und ins Bett kommt, ist es weit nach Mitternacht. Für ein paar Stunden muss sie noch in eine provisorisch eingerichtete Gefangenensammelstelle in die Kleinstadt Wolgast; hier werden ihre Fingerabdrücke abgenommen, Personalien festgestellt und Fotos gemacht.
  Seit 2002 engagiert sich Sara bei der Umweltschutzorganisation Robin Wood. Als Frankreichs Ministerpräsident Jacques Chirac 1996 einen Atombombentest auf dem Mururoa Atoll ausüben ließ war Sara 13 Jahre alt und das erste Mal auf einer Demonstration gegen Atomkraft. „Seither ist das mein Thema“, sagt sie. Sara ist in Hamburg aufgewachsen und hat in Dresden studiert. Mittlerweile hat sie ein Psychologiestudium absolviert und beginnt gerade eine Therapieausbildung. Das Engagement bei Robin Wood hat sie ihr Studium hindurch begleitet. Mindestens ein Halbtagsjob sei die Arbeit in der Umweltorganisation für sie.

  In den vergangenen Jahren hat sie unzählige Debatten über Atomkraft geführt: Mit Freunden, Bekannten und Fremden. Mit Gegnern und Befürwortern. Sie kennt die Argumente der Atomkraftfürsprecher: Der Strom ist günstig, klimafreundlich und in Deutschland produziert. Für Sara ist die Nutzung der Atomkraft unverantwortlich. „Sowohl der Betrieb der Kraftwerke als auch die Lagerung des Atommülls ist ein Wahnsinnsrisiko“, sagt sie.
  Nachdem die Bundesregierung nach ihrem Regierungsantritt die Laufzeitverlängerung beschlossen hatte, ist Atomenergie im Herbst 2010 wieder ein Thema. Ausstieg aus der Atomenergie ist nicht in Sicht, sogar über den Neubau von Atomkraftwerken wird öffentlich nachgedacht.
  Im September 2010 haben 100 000 Menschen im Berliner Regierungsviertel gegen die Laufzeitverlängerung protestiert. Selbst im strukturschwachen Vorpommern, wo Sara im Dezember auf der Schiene liegt und zu Blütezeiten 10 000 Menschen in dem mittlerweile stillgelegten Atomkraftwerk arbeiteten, hat es in den Monaten vor dem Atommülltransport eine kleine Anti-Atom-Revolution gegeben. Trotzdem: Nur wenige der Atomkraftgegner gehen auf die Straße. Noch wenigere würden so weit gehen, mit einer Sitzblockade den Transport aufzuhalten. Ankettaktionen wie die von Sara und Peter sind die absolute Ausnahme, die Spitze des Protests. Aktionen wie ihre sollen spektakuläre Bilder liefern, die gedruckt und im Fernsehen gezeigt werden. Sie sollen Polizeikräfte binden, die Ankunftszeit des Transportes merkbar verzögern und nicht zuletzt Kosten verursachen.

  Sara sagt: „Wir wollten klar machen, dass wir bereit sind ein hohes persönliches Risiko in Kauf zu nehmen, um auf die Gefahren der Atomkraft aufmerksam zu machen.“ Es geht ihr darum Menschen für das Thema zu gewinnen, sie auf die Straße zu holen. Wenn der Protest nur stark genug wird, so ist ihre Hoffnung, wird ihn die Politik eines Tages nicht mehr ignorieren können. Manchmal fragt sich Sara, warum eigentlich nicht mehr Leute auf die Straße gehen, warum sie eigentlich immer noch auf der Schiene liegen muss. „Ich mache das nicht für mein Ego“, sagt Sara. „Ich muss es nicht haben, dass der Adrenalinspiegel steigt.“
  Die unerwartete Blockade ist für die Einsatzleitung der Polizei eine Überforderung. Den ganzen Nachmittag und Abend ist der Verkehr in und um das Seebad Lubmin lahm gelegt, Autofahrer stehen stundenlang an geschlossenen Bahnübergängen und ein sichtlich nervöser Bürgermeister beschwert sich im Fernsehen über den Polizeieinsatz.
  Die Quittung für ihre Aktion bekommen Sara und Peter zwei Monate später: 8400 Euro sollen sie für ihre Bergungsaktion zahlen. Der Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, Lorenz Caffier (CDU), macht sie für das Verkehrschaos verantwortlich und kündigt medienwirksam an, Robin Wood die Gemeinnützigkeit zu entziehen. „Es war absurd“, sagt Sara, „zum Teil wurden wir in den Lokalzeitungen dafür beschuldigt, dass Kinder an dem Tag nicht zu ihrer Großmutter fahren konnten.“ Sie fahren noch einmal nach Vorpommern, diesmal um Pressegespräche zu führen. Als im Februar 2011 der nächste Transport nach Lubmin ansteht, wenden sich die Robin Wood-Aktivisten mit einem Brief an die Öffentlichkeit. „Verzögerungen im Verkehr stehen in keinem Verhältnis zu der Gefährlichkeit von hochradioaktivem Atommüll“, heißt es darin. Sara und Peter richten einen Internetblog ein, geben eine Telefonnummer und eine E-Mailadresse an und fordern die Bevölkerung auf, sie zu kontaktieren.
  Es ist als würden Sara und Peter eine Auseinandersetzung mit einer ganzen Region führen.

  Anlässlich des Jahrestags des Reaktorunglücks von Tschernobyl findet vier Monate nach der Ankettaktion im Greifswalder Dom eine Podiumsdiskussion „Pro und Kontra Atomkraft“ statt. Selbst der Geschäftsführer der Energiewerke Nord, Betreiber des Lubminer Zwischenlagers, behauptet auf der Veranstaltung von sich Atomkraftgegner zu sein. Diskutiert wird nur über das Endlagerproblem und den Zeitpunkt des Ausstiegs. Dass es ihn geben wird steht inzwischen fest.
  „Sie werden Mühe haben in Deutschland noch Atomkraftbefürworter zu finden“, sagt einer der Teilnehmer der Diskussion, der Greifswalder Epidemiologe und Strahlenforscher Wolfgang Hoffmann. Nicht der Sachverhalt, sondern die Bewertung habe sich verändert. „Im Grunde heißt das auch, dass man sich fragen muss, ob nicht der Demonstrant, der sich in Gorleben vor die Wasserwerfer stellt, schon vor 30 Jahren Recht hatte.“ Sara sagt: „Fukushima ist furchtbar. Die notwendigen Konsequenzen müssen nun endlich gezogen werden.“ Jetzt gehe es um die Endlagerproblematik und um die sofortige Stilllegung aller Atomkraftanlagen. Sara und Peter haben Widerspruch gegen ihren Bußgeldbescheid eingelegt. Das Verfahren läuft noch.
  Im Juni 2011 plant die Bundesregierung den Atomausstieg für 2022. Nicht weil Sara und Peter die Schienen blockiert haben. Nicht weil tausende Menschen protestiert haben. Nicht weil die Mehrheit der Deutschen Atomkraft ablehnt.
  Im März 2011 ereignete sich in einem japanischen Atomkraftwerk ein katastrophaler Unfall.



Text: anke-luebbert - Foto: C. Grodotzki/Robin Wood

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