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Seitenwechsel
In der 77. Minute ist Svens Geduld am Ende. Es ist eng, es ist kalt und der FC Bayern trifft nicht. Sven schlägt beide Hände vor den Kopf, brüllt wie ein Stier: „Aus zwei Metern macht der Altintop den Ball nicht rein! Wahnsinn!“ Ich nicke ihm verständnisvoll zu. Svens Leid ist auch mein Leid. Er ist Bayern-Fan, ich bin Bayern-Fan. Jedenfalls glaubt Sven das. Er weiß nicht, dass mein Herz für den Feind schlägt, für den TSV 1860 München. 16 Jahre war ich meinen Löwen treu, nun begehe ich eine Todsünde. Ich stehe in der Fankurve des FC Bayern. Ich fühle mich mies. Ich bin ein Verräter.
Samstag, früh um halb acht, Hauptbahnhof München. Ich stehe an Gleis 16, schaue mich kurz um, wickle den rot-weißen Fanschal um meinen Hals. In der Scheibe des Zugfensters sehe ich mein Spiegelbild. Es ist erbärmlich. Ich atme tief durch, dann steige ich ein. Drinnen werde ich empfangen, als hätte man auf mich gewartet. „Setz dich her“, ruft ein Zwei-Meter-Mann, dessen Bauch sich bedrohlich unter einem zu engen XXL-Trikot wölbt. Er heißt Thomas, ihm gegenüber sitzt Frank, ein lichtblonder Mitdreißiger mit Designerbrille und speckiger FC-Bayern-Trainingsjacke. Ich setze mich dazu. In der Reihe nebenan: Hans, Udo und ein Kasten Bier. Proviant für sieben Stunden Fahrt bis Freiburg. Kaum ist der Zug losgefahren, werden die ersten Flaschen geöffnet. Die Heizungsluft mischt sich jetzt mit süßlichem Biergeruch. So riecht er also, der Erfolg. Ich bin jetzt auf der Gewinnerseite.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Ich war zehn, als mein Opa mich das erste Mal ins Grünwalder Stadion mitnahm, die Löwen spielten damals in der zweiten Liga. Wir haben gewonnen. Fröhliche Musik dröhnte aus den Lautsprechern, um mich herum jubelten Männer, die Vokuhilafrisuren trugen und mit bunten Aufnähern übersäte Jeanswesten. Männer, die stolz waren, glücklich oder einfach nur betrunken. Ich wusste sofort: Das ist mein Verein. Was ich nicht wusste: An diesem Tag habe ich mich gegen das Glück entschieden. Gegen den Erfolg der Anderen. Seither haben die Anderen zehnmal die Meisterschaft geholt, siebenmal den DFB-Pokal, einmal die Champions-League.
Wir haben nichts gewonnen. Im Gegenteil: Seit sieben Jahren klebt der TSV 1860 im grauen Mittelfeld der zweiten Liga, spielt in einem fremden, viel zu großen Stadion vor viel zu wenigen Fans. Und jetzt steht mein Verein vor der Insolvenz, vor dem Aus. Es ist, als liebte ich ein Arschloch. Ein Arschloch, das mich betrügt, verprügelt und jede Woche aufs Neue enttäuscht. Ich habe die Schnauze voll. Ich wage den Seitenwechsel.
Elf Uhr, der Zug hat Ulm passiert. Draußen ist es kalt, drinnen glüht Thomas’ Kopf. Er trinkt das fünfte Bier, reißt Witze über die Finanznot der Löwen. „Wir können ja eine Kollekte durch die Bayernkurve wandern lassen und Almosen sammeln“, sagt Thomas und lacht darüber so sehr, dass er heftig husten muss. Ich ziehe die Mundwinkel gequält nach oben. Innerlich koche ich vor Wut. Ich muss mich erst daran gewöhnen, zu den Anderen zu gehören.
Kurz vor eins hält der Zug in Donaueschingen. Drei Typen mit klebrig-langen Haaren und Rockerkluft steigen zu. Es folgt eine Begrüßung unter Siegern: Shake hands, ein lautes Schalalalala. Man kennt sich von gemeinsamen Auswärtsfahrten, versteht sich trotz verschiedener Dialekte. Die Rocker schwäbeln, Frank fränkelt, Udo sächselt. Nur Thomas lallt auf bairisch. Ihre gemeinsame Sprache ist der Erfolg. Thomas genießt das Siegergefühl: Er öffnet das achte Bier, nimmt einen Schluck, rülpst laut und animiert mich zum Mitsingen: „Wir sind aus München, wir sind die Bayern, wir sind diejenigen, die immer wieder feiern! Ole ole!“ Eine Frau, die am Ende des Abteils sitzt, blickt mich böse an, schüttelt den Kopf. Ich schäme mich. Ich bin noch nicht in Feierlaune.
Im Stadion. Eine halbe Stunde ist gespielt, es steht eins zu eins. Kopfschütteln in der Bayern-Kurve, die Mannschaft spielt schlecht. Ich schüttle auch den Kopf, doch ich spüre noch immer nichts. Kein Fiebern, kein Herzklopfen, kein Siegergefühl. Ich denke an meinen Opa und bekomme Bauchschmerzen.
88. Minute. Es ist wie immer: Bayern trifft doch noch, Ribery schießt das zwei zu eins. Die Kurve kocht. Mir wird kalt, jetzt kriege ich Herzklopfen. Ich muss hier raus. Ich schiebe mich durch die jubelnde Menge, laufe die Treppe hoch und verlasse das Stadion. Ich haste durch eine Wohnsiedlung in Richtung Bahnhof. In einem Vorgarten pflanzt ein Rentner Blumen, fragt mich, wie das Spiel ausgegangen sei. „Zwei zu eins“, sage ich. „Für wen?“, fragt der Rentner nach. „Für die Anderen“, antworte ich, wickle mir den rot-weißen Fanschal vom Hals und werfe ihn in den nächsten Mülleimer.
Text: andreas-glas - SZ-Collage: Christopher Stelmach, ddp, dpa