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Schön wär's! 590240
Die angenehme Krankheit
Dieses Kratzen im Hals. Also, jetzt nicht direkt ein Kratzen im schmerzhaften Sinne. Mehr unangenehm, ein bisschen. Glaube ich. Und eher auch nur, wenn ich jetzt wirklich ausdauernd grölen wollen würde, mit vielen langen Vokaaaaaalen nach zackigen Konsonanten. Aber eben schon so, dass ein Arzt es sich ansehen sollte. Und der setzt natürlich gleich diesen Blick auf, mit dem man kleinen Kindern noch weis machen kann, dass ihre Ohren rot werden, wenn sie jetzt lügen, und meint: „Sagen Sie ehrlich, wie lange haben Sie das schon?!“ Und das ist dann auch mehr eine Drohung als eine Frage. „Weil“, immer noch der Arzt, „was sie da haben, ist SEHR gefährlich. Nicht direkt für Sie, vermutlich spüren Sie es gar nicht deutlich.“
Das sei typisch beim Wirt. Quasi vollständige Beschwerdefreiheit. Aber das Umfeld: höchste Ansteckungsgefahr! Und: nicht auszudenken! In jedem Fall Bettpflicht! Oder Couch. Und viel trinken: Tee oder Rotwein. „Und da rechnen Sie mal besser mit der restlichen Arbeitswoche, mindestens“ - was an einem Montag ja mindestens fünf Tage sind. Und man muss sich dem dann natürlich fügen. „Auf gar keinen Fall verschleppen“, hat der Arzt ja auch noch gesagt. Er habe das mit dem Arbeitgeber auch schon geklärt.
Jakob Biazza
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Das neue Toilettengesetz
Jahrelang war es das Gleiche: Kaffee getrunken, danach spazieren gegangen oder auf den Heimweg gemacht, jedenfalls unterwegs gewesen. Länger. Im Café war noch alles gut, aber nach 15 Minuten an der frischen Luft muss ich wirklich ganz dringend. Fies! Entweder musste man also durchhalten oder in einem anderen Café fragen (wenn es eines gab), wo sie mir brummelnd den Weg zur Toilette wiesen. Auch fies! Aber seit Kurzem ist alles anders! Jetzt gibt es ein neues Gesetz, das es erlaubt, überall zu klingeln, bei jedem Privathaushalt, und die Toilette zu benutzen. Einfach so! Und es funktioniert: Alle empfangen einen total freundlich und sagen Sachen wie: „Hey, du musst mal, na, komm rein, hab grade frische Seife ans Waschbecken gelegt, die riecht nach Kamille und Honig, du darfst sie als Erste benutzen!“ Und das beste am neuen Gesetz: Meine eigene Wohnung ist davon ausgenommen.
Nadja Schlüter
Der perfekte Forschungsauftrag
Ich drücke die Neun, als meine Professorin ihren Fuß zwischen die Türen schiebt und zu mir in den Aufzug steigt. „Haben Sie nicht auch gleich Seminar bei mir?“, fragt sie in Stock zwei. „Ja“, sage ich und hoffe, dass sie jetzt kein Gespräch über den Text von heute anfängt, den ich nicht gelesen habe. „Könnten Sie mir einen Gefallen tun?“ – sie schaut mich direkt an. „Gern!“ sage ich und denke „Nein!“. „Im Kollegium werden derzeit ständig Witze über diese Serie, ähm, „Girls“, gemacht. Ich bekomme aber Kopfschmerzen, wenn ich länger als zehn Minuten auf Bildschirme starren muss. Könnten Sie nicht alle Staffeln für mich gucken und mir nach jeder Folge eine kurze Mail mit dem Inhalt schicken? Für die Dauer des Forschungsauftrags wären Sie natürlich von den Lehrveranstaltungen befreit.“ „Ähm, also . . . ja“, antworte ich. Die Aufzugtüren gehen auf. „Sehr gut! Am besten, Sie fangen gleich an!“ sagt sie und verschwindet in Richtung Seminar. Ich grinse und drücke den EG-Knopf.
Nadine Wolter
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Die ungekämmte Ikone
Verkaterter Sonntagmittag, ich laufe ungeduscht, ungekämmt, ungeschminkt, und im löchrigen Hoodie zum Falafelstand vor meiner Haustür. Ein Streetstyleblogger fotografiert mich dabei. Das Bild bekommt 300 000 Likes auf Facebook, Instagram glüht. L'Oréal ruft bei mir an: „Wir würden Ihnen gern einen krass lukrativen Werbevertrag anbieten. Einzige Bedingung: Sie dürfen sich nie wieder schminken und kämmen.“ Mein Loch-Hoodie wird der letzte Schrei, ich muss nie wieder etwas anderes tragen.
Pauline Achtermann
Die Popkultur-Archivarin
Ich sitze am Schreibtisch, da klingelt mein Telefon. Am anderen Ende ein Headhunter, der sagt. „Frau Waechter, wir beobachten Sie schon eine ganze Weile aus der Ferne und sind immer wieder fasziniert von Ihrer umfassenden Ansammlung unnützen Popkultur-Wissens. Genau so jemanden sucht mein Klient seit Monaten. In dem Job geht es im Prinzip nur darum, Fragen zu beantworten, deren Antworten Sie schon kennen. Interesse?“
Christina Waechter
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Der Fresskoma-Raum
Ich bin so satt. Wir sitzen in der Mensa, es ist 13.30 Uhr, ein halbes Dutzend Pommes liegt noch auf meinem Teller. „Ich hätte doch lieber nur was Kleines nehmen sollen, jetzt komme ich die nächsten Stunden gar nicht mehr hoch“, sage ich zu meinem Nachbarn. „Weißt du es noch nicht?“, fragt der mich. Ich schüttele irritiert den Kopf. „Der erste Stock der Bibliothek wurde in „Food-Koma-Floor“ umbenannt. Sofas, Decken, Fernseher – alles da! Jeder Student soll sich nach dem Essen erstmal ’ne halbe Stunde hinlegen, die Vorlesungen in der Mittagszeit wurden abgeschafft. Das ist irgend so ein Imagekampagnen-Ding vom neuen Unipräsidenten.“ Er steht auf. „Kommst du?“
Nadine Wolter
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Der geniale Friseur
Ich lasse mich in den Stuhl vor dem Spiegel sinken, schließe die Augen und sage zu meinem Friseur: „Bitte einmal eine neue Frisur, die mir gut steht. Länge, Farbe, alles egal, Hauptsache es sieht super aus.“ Eine Stunde später öffne ich die Augen und erkenne mich kaum wieder. Und ich denke: Ist ja irre! So kann ich also auch aussehen.
Christina Waechter
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Der persönliche Einkäufer von nebenan
Ich hetze um 19:56 mit einer Plastiktüte aus dem Haus und stoße mit meinem neuen Nachbarn zusammen. Auf mein „Sorry, muss schnell zum Rewe. Hab’s Einkaufen wieder mal vercheckt und nur noch Zwieback zu Hause.“ entgegnet er freudestrahlend: „Ich liiiebe einkaufen! Ich bin auch sehr kräftig gebaut, weil ich deutscher Meister im Bierkasten-in-den-dritten-Stock-tragen bin, und außerdem hab ich total viel Zeit. Schieb mir doch einfach immer einen Zettel unter der Tür durch, wenn du was vom Supermarkt, aus der Drogerie oder vom Gemüsemann brauchst. Dann bring ich es dir mit. Auch, wenn’s richtig viel ist. Kein Thema, echt!“
Christian Helten
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Die Schneekatastrophe
Ich wache auf, es ist Dienstag, halb zehn Uhr morgens. Gegen meine Fenster prasselt Schneeregen, der Wind saust laut und in Wirbeln durch die Straßen, ich denke: Eigentlich gemütlich, schade, dass ich aufstehen muss. Ich raffe mich auf, dann merke ich, dass irgendetwas nicht stimmt. Kein Straßenlärm. Keine schlagenden Haustüren. Kein Klimpern aus dem Café unter meinem Haus. Alles ist gedämpft. Völlig dicht. Bin ich taub? Nein, ich höre ja den Wind und den Schnee. Und draußen Stimmen, entfernt und dumpf, als brüllte jemand in ein Kopfkissen. Gehe zum Fenster. Wohne im ersten Stock. Der Schnee steht bis zur Fensterbank. Ich sehe vier dunkle Gestalten gegen den Schnee ankämpfen. Ihre Hüften befinden sich auf meiner Augenhöhe. Sie ziehen einen Schlitten mit Wasser und Lebensmitteln hinter sich her. „Hallo?“, rufe ich, „Hallo, was ist los?“ Ein Mann kommt zu mir. „Wir wissen auch nicht viel. Schneekatastrophe, wie es aussieht. Im Radio sagen sie, man habe es nicht vorhersehen können. Niemand wisse, wie lang das noch geht. Forscher sagen, es könnte eine neue Eiszeit angebrochen sein. Es gibt Notversorgungsschlitten, die durch die Stadt ziehen. Beim Tengelmann vorn haben sie den Eingang freigeschaufelt. Haben uns Wasser und Fertignahrung gesichert. Beeilen Sie sich lieber, wenn sie noch was abhaben wollen.“
Ich schließe das Fenster. Schalte das Licht an. Strom geht noch, zum Glück. Computer an. Will Radio hören. Internet geht nicht. Telefon? Tot. Gehe in die Küche. Fülle alles, was ich an Leergut-Flaschen habe, mit Leitungswasser auf. Gucke in meine Vorratsschränke. Gut, dass ich sie neulich erst aufgefüllt habe. Das sollte für gut einen Monat reichen, mit etwas Sparsamkeit auch noch zwei Wochen länger. Ich denke an meinen Freund. Meine Familie. Wie soll ich sie erreichen? Wie ist es da, wo sie sind? Ich drehe die Heizung auf. Wickele mich in meine Decken, atme tief durch und versuche zu überlegen, was jetzt am klügsten ist. Ich habe keine Angst. Ein Gefühl von tiefer Erleichterung breitet sich in meinem Bauch aus. Endlich Ruhe. Jetzt kriegt die Welt, was sie verdient. Ich gucke mein vollgestopftes Bücherregal an. So viele Geschichten. So viele Abenteuer. So viel Poesie. Nur einen Bruchteil davon habe ich gelesen, einige Bücher sind noch verpackt. Jetzt habe ich endlich Zeit. Es lebe das analoge Buch. Da klopft es an mein Fenster. Jemand wischt sich ein Sichtfenster frei. Mein Freund! Immerhin. Ich lasse ihn rein. Wir gucken uns an. „Geht jetzt die Welt unter?“ fragt er. „Vielleicht“, sage ich. „Und es gefällt mir.“
Mercedes Lauenstein
Die stets verfügbaren Tierbabys
War kein so guter Tag heute, ich bin müde und ein bisschen traurig. Was jetzt anfangen mit dem Abend? Noch ein Bier trinken gehen? Nee, zu viele Leute. Serien gucken oder lesen? Nee, zu einsam. Freunde zum Abendessen einladen? Nee, ich mag nicht mehr reden. Da ruft meine Bekannte XY an und sagt: „Hey Nadja, hier sind drei Katzenbabys, die gerade ihre Augen geöffnet haben, und zwei Hundewelpen, die gerne im Arm gehalten werden. Lust, vorbeizukommen, und die ein bisschen zu streicheln? Dann kannst du auch gleich meinen Zweitschlüssel an deinen Schlüsselbund machen und ab sofort jederzeit vorbeikommen. Die kleinen Tiere sind superweich. Und die werden auch nicht älter. Nie.“
Nadja Schlüter