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Schlammschlacht für ein besseres Land
Gut 50 junge Frauen stehen an einem Nachmittag im Juli dieses Jahres auf dem Maidan, dem zentralen Platz von Kiew, der Hauptstadt der Ukraine. Sie lachen und tippen auf ihren Handys. Plötzlich geht es los: Einige ziehen Dollarscheine aus einer Tasche und strecken sie den Passanten entgegen: „Sexy, come to my room!“ Andere halten Plakate in den Händen: „Die Ukraine ist kein Bordell“ steht da auf Deutsch, Englisch, Italienisch und Ukrainisch. Ein blondes Mädchen im Minirock schwenkt eine Fahne mit der Aufschrift FEMEN. Kurz darauf kommen junge Männer in Anzügen, packen sie, reißen ihr die Bluse vom Leib und begießen sie mit Champagner. Am Rande dieser Szene steht ein Mädchen mit roten Haaren, Anna Hutsol, 24. Sie trägt Jeans und raucht. Während die Mädchen für Fotografen und Kameras posieren, erklärt sie den Journalisten, was hier geschieht: Die jungen Frauen kämpfen gegen den Verfall eines Landes und für die Rechte der Frauen in der Ukraine. Abends laufen die Bilder von der Demonstration im ukrainischen Fernsehen. Der "Daily Telegraph" in London, der "Spiegel" in Hamburg und "Newsweek" in den USA drucken Bilder. Drei Monate später sitzt Anna gemeinsam mit anderen Aktivistinnen der Protestgruppe FEMEN in einem Kiewer Café und raucht wieder. „Endlich wird hier über Sextourismus geredet“, sagt sie. So gut wie alle Ukrainer wüssten, dass viele Männer aus dem Westen nach Kiew oder nach Odessa reisen, weil sie dort billigen Sex kaufen können. „Seit die Ukraine 2005 die Visumspflicht aufgehoben hat, nimmt die Zahl zu“, erklärt Anna. Doch die Politiker ignorieren das Thema der "Sexpats" (abgeleitet von der englischen Abkürzung für Expatriates, Auswanderer) – obwohl Stadtmagazine und Faltpläne für Ausländer voll sind mit Werbung für Escort-Dienste und Luxusmassagen. Und wer abends durch Kiew läuft, sieht oft junge Ukrainerinnen, die sich bei offensichtlich aus dem Westen stammenden Männern mittleren Alters untergehakt haben. Angeregt durch FEMEN fanden Journalisten zum Beispiel heraus, dass zu Messe-Zeiten junge Mädchen sogar in Bussen zu einschlägigen Hotels gefahren werden. Unanständige Angebote „Für viele Touristen ist jede Ukrainerin eine Nutte“, sagt die 20-jährige Sascha. Die Studentin mit den blonden Haaren kennt das Gefühl, ständig angefasst und wie „ein Stück Fleisch“ angegafft zu werden. Im September ergab eine Umfrage unter 1 200 Studentinnen in Kiew, dass zwei Drittel von ihnen unanständige Angebote von Ausländern bekommen haben. Darüber hinaus gibt es zum Thema Sextourismus kaum offizielle Zahlen. Laut Innenministerium arbeiten 12.000 Prostituierte in der Ukraine – Anna hält die Zahl aber für untertrieben, weil ein großer Teil der Frauen nicht erfasst sei. „Es sind nicht nur Drogensüchtige und arme Frauen, die ihren Körper verkaufen, sondern auch Studentinnen“, sagt sie. Die Mieten in Kiew sind bisweilen doppelt so hoch wie in München und die Stipendien sind karg. Viele Mädchen, sagt sie, kämen mit 17 zum Studium in die Stadt und ließen sich vom Glitzer blenden: iPods gehören ebenso zum Standard wie Taschen von "Gucci", auch wenn sie nicht echt sind. Viele, so Anna, prostituieren sich für ihr neues Leben.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Wieder auf dem Maidan: Mit einer Schlamm-Catch-Aktion protestierten die FEMEN-Frauen im Oktober dagegen, dass die ukrainischen Parteien im Umgang miteinander gerade nicht darüber hinaus kommen, sich "mit Dreck zu bewerfen". Sie selbst wuchs „als typisches Sowjetkind“ in einer russischen Kleinstadt auf, kam zum Studium in die Ukraine und engagierte sich in der Studentenvereinigung. Dort nahmen die Männer die Mädchen nicht ernst, weshalb Anna eine eigene Gruppe gründete und im Frühjahr 2008 schließlich FEMEN. „Wir sind aber keine Feministinnen“, sagt sie. „Männer sind uns stets willkommen!“
Bis heute hat die Organisation kein Büro und trifft sich drei Mal pro Woche in einem Café. Zum engen Kreis der Gruppe zählen 30 Frauen, doch die Zahl der Sympathisanten wächst: Bei vkontakte.ru, dem russischsprachigen StudiVZ, hat FEMEN 11.000 Mitglieder und viele lesen den Blog femen.livejournal.com. Im Café diskutiert Anna mit den Anderen nicht nur den Sextourismus. Die Stadt hat die Preise für U-Bahn und Busse vervierfacht und die Studenten sprechen über neue Proteste. „Wir könnten einen Sitzstreik machen“, schlägt Alischa vor. „Warum bilden wir nicht ein Eisenbahngleis mit unseren Körpern nach?“, fragt Sascha. Schon am letzten Wochenende hatten sie im U-Bahn-Untergeschoss demonstriert. Wie vor einem Abistreich begrüßten sich die Jungs und Madchen verschwörerisch. Rosa Luftballons wurden aufgeblasen, Plakate mit der Aufschrift „VIP Zone METRO“ geschrieben und sechs junge Frauen mimten in Uniformjacken und kurzen Röcken die Kontrolleurinnen, die in Kiew jeden U-Bahn-Eingang bewachen. Ein Mädchen hielt ein Plakat „Keine Preiserhöhungen“ in die Höhe, die Jungs spielten Passanten, die von den Kontrolleurinnen abgewiesen werden. Das Ganze wirkte albern, aber die Zeitungsfotografen waren zufrieden.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Anna Hutsol
Dass die Frauen von FEMEN bei ihren Protesten so auf nackte Haut setzen, wurde kritisiert. Aber Anna winkt ab: „Man würde uns nicht beachten, wenn wir lange Schürzen anziehen würden.“ Sie weiß, wie Medien funktionieren. Nach ihrem BWL-Studium organisiert sie jetzt Konzerte ukrainischer Bands.
Viele verbringen seit Wochen jede freie Minute in der Gruppe, die Anna ins Leben rief. „Hier werde ich ernst genommen“, sagt beispielsweise die 18-jährige Irina. Sie studiert Modedesign. „Vielleicht vielleicht werde ich später Premierministerin“. Die Freundinnen kichern, ihr Idealismus und ihre Energie sind ansteckend. „Jede Woche kommen mehr Leute oder schreiben E-Mails“, sagt Nastja. „Wir können die Ukraine europäisch machen.“
„Diese Art des Protests ist neu in der Ukraine“, sagt Kyrill Savin, der das Kiewer Büro der Heinrich-Böll-Stiftung leitet. FEMEN setze wichtige Themen auf die Tagesordnung. Für Savin beweisen die Aktionen, dass sich die Gesellschaft seit der Orangenen Revolution vor vier Jahren verändert habe: „2003 war es undenkbar, dass jeder seine Meinung sagt, ohne dass die Polizei einschreitet.“
Anna saß 2004 frierend mit 100 000 anderen auf dem Maidan und demonstrierte gegen die gefälschte Präsidentschaftswahl. Sie stimmt Savin zu, relativiert aber: „Die freie Meinungsäußerung ist auch die einzig gute Sache, die von damals geblieben ist.“ Im September bildeten Aktivistinnen mit ihren Körpern den Slogan „Ukraine ist kein Bordell“ nach – gegenüber dem Regierungsgebäude. „Wir fordern, dass die Polizei strenger gegen Bordelle vorgeht und dass wieder über die Visumpflicht diskutiert wird“, sagt Anna und Nastja fällt ihr ins Wort: „Heute werden in der Ukraine nur die Hure und ihr Zuhälter bestraft, aber nicht die Sextouristen.“
Keine Argumente, nur Dreck
Doch die Politik reagiert nicht wirklich und das macht Anna wütend. Premierministerin Julia Timoschenko erhielt von FEMEN einen Brief mit Vorschlägen, wie man die Situation ändern könnte. Doch zurück kam nur ein Schreiben vom Komitee zur Aidsbekämpfung, in dem es hieß, man sei nicht zuständig. „Dabei hatten wir die gar nicht kontaktiert“, sagt Anna. Die Politik sei losgelöst vom Alltag der Menschen, klagt sie. Während die Welt von der Finanzkrise geschüttelt werde, stritten sich die Parteien nur über einen Termin für Neuwahlen. FEMEN reagierte: Auf dem Maidan bewarfen sich drei Mädchen in Bikinis mit Schlamm. Die Farbe der Bikinis symbolisierte eine der drei großen Parteien. „So funktioniert hier die Politik“, sagt Viktor, als er die Fotos der plakativen Aktion auf dem Notebook zeigt: „Keine Argumente, aber viel Dreck.“
Anna hofft, dass sich auch in anderen Städten wie Lwiw oder Odessa FEMEN-Gruppen bilden und Irina denkt über die nächste Aktion nach. „Sobald es das erste Mal schneit, bauen wir Schneemänner vor ausländischen Botschaften.“
Und daneben werden sie selbst stehen. Vielleicht wieder in Bikinis. Egal, wie kalt es ist.
Text: matthias-kolb - Fotos: Reuters, privat