- • Startseite
- • jetztgedruckt
-
•
Post aus New York: Bären in Lack und Leder
Das Leben im Archiv ist nicht das aufregendste. Die Kollektion, die ich sortiere, von der Reiss Family, heitert mich glücklicherweise ein wenig auf. Lola Reiss hatte einen formidablen Kleidungsstil. Als ich über Ostern ein paar Tage frei hatte, beschloss ich, eine weitere Stadt auf diesem grossen, grossen Kontinent zu besichtigen und bin zu meinem alten Freund Dale nach Atlanta geflogen.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Als das Flugzeug New York überflog, wurde ich beinahe wehmütig. Es war mir ein bisschen unangenehm, diese Stadt von oben so sagenhaft schön zu finden: all die vielen, vielen, Millionen Lichter, die Symmetrien, die Bewegungen. Kurzum, vollkommen überwältigt begriff ich, dass diese Stadt die beste ist, die es geben kann. New York ist so grossartig, dass man einen ganzen ironiefreien Abschnitt darüber schreiben könnte. In Atlanta habe ich mir zuerst eine Ofenkartoffel bei Wendy’s gekauft. Dann kam Dale und machte seine Drohung wahr: Es war beinahe Mitternacht und ich musste meinen Koffer im Auto lassen, damit wir ohne Verzögerung in alle möglichen Clubs gehen konnten. Dale und sein sehr liebenswürdiger Mitbewohner Chuck haben sich hierbei auf sehr subtile Art und Weise geoutet: Club 1: Schwulenpornos der letzten 50 Jahre laufen auf den im ganzen Raum verteilten Fernsehern. Ich lerne Dales Freunde kennen. Sie sind alle sehr nett. Ich bin nebst einer Lesbe, die aussieht wie ein Junge, das einzige Mädchen. Club 2: In diesen Club gehen wir nur, um mich zu schockieren. Es ist das Stammlokal der ansässigen Lack-/Leder-/Bären-/Usw.-/Szene. Um Dale zu erfreuen, spreche ich ein besonders bärtiges und freizügig gekleidetes Exemplar an: „Entschuldigen Sie. Ist es möglich, dass dieses Establiment nur Männer beherbergt?“ „Ja.“ „Ist dies eine Homosexuellen-Bar?“ „Ja.“ „Das heisst, meine Aussichten, hier einen netten jungen Mann kennenzulernen, sind gering?“ „Haha, ja, Ma’am. (Wir sind schliesslich im Süden.) Ich denke, ihre Chancen sind gering.“ Abends waren wir dann zu Chucks Eltern eingeladen: Ostersonntags-Essen. Chuck warnte uns schon; seine Eltern seien drinkers. Ich betrat das Haus. Der Vater kam mir entgegen und fragte, was ich trinken möchte. Ich fragte zurück, was es denn gäbe und erwartete das Übliche: Cola, Cola light, Sprite, Sprite light usw. Der Vater antwortete: „Whiskey, Rotwein, Weisswein, Wodka, Martini, Cognac, Brandy, Sherry. Ich kann dir auch jeden Drink der Welt mixen“. Ich nahm „erstmal ein Wasser, bitte“ und erntete mitleidige Blicke. Fünf Minuten später stellte man mir einen Rotwein auf den Tisch, mit der Bitte, ich solle doch endlich was Richtiges trinken. Ich fragte den Vater, warum er denn so eine riesige Eismaschine am Kühlschrank habe. Er war ganz erstaunt und auch ein bisschen traurig darüber, dass wir in München keine Eismaschinen haben, wie ich berichtete. Der Vater tröstete mich, indem er mir ein sehr grosses Glas holte und mich die eine Hälfte mit Eiswürfeln und die andere mit crushed ice füllen liess. Der Vater war hocherfreut, mich in die kulinarischen Geheimnisse der southern cuisine einweihen zu dürfen, ich ass rote Kartoffeln, Rahmmais, Bohnen, so eine Art Quiche, Spinatsalat mit Rosinen und zum Nachtisch absolut tödlichen Pecan-Pie. Pecan-Pie ist eine southern Spezialitaet und sieht sehr harmlos aus. Es handelt sich jedoch um in Corn-Sirup schwimmende Pecannuesse mit sehr, sehr viel Butter. Ich habe an jenem Abend zwei Stücke des Kuchens alleine gegessen, Dale auch. Wir sind danach beinahe ins Koma gefallen und konnten 24 Stunden nichts mehr zu uns nehmen. Von der Stadt habe ich ansonsten nichts gesehen, aber ich glaube kaum, dass das allzu schlimm ist. Atlanta ist ein gigantischer, industriell geprägter Vorort. Die Gebäude sind vollkommen unstrukturiert, die Strassen sehr weit und die Menschen ein bisschen, nun ja, eigen. Leider hat auch dieser kleine Urlaub ein Ende nehmen müssen. Die Arbeit im Archiv ist auch diese Woche tendenziell unspektakulär. Einer der Söhne der Familie Reiss hat unter dem wirklich originellen Pseudonym Abraham Cohen ein Pamphlet geschrieben, dass 1935 die Lösung der „Judenfrage“ zum Thema hatte. Er schlug vor, die Juden sollten einfach Jesus Christus als Messias annehmen. Irgendwie sollten somit auch die Nationalsozialisten damit zufrieden gestellt werden. Abraham Cohen schätzte seine eigene Arbeit sehr hoch ein, wie folgender Brief beweist: „Minister Erwin Zajicek Prag, 28. Jaenner 1938. Sehr geehrter Herr! Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Sie bestimmt keine Aussicht haben, den Nobel-Preis zu erhalten. Hierfür kommen nur jene Personen in Frage, die seit vielen Jahren hervorragend im Sinne der Friedensidee wirken. Hochachtungsvoll zeichnet Zajicek“ Schade.