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"Plötzlich flog ein Stein in den Topf"
Niemand kennt sich in Deutschland so gut mit parapsychologischen Phänomenen aus wie Dr. Dr. Walter von Lucadou. Er ist Physiker und Psychologe und leitet seit über zwanzig Jahren die staatlich geförderte Parapsychologische Beratungsstelle in Freiburg. Dort melden sich unter anderem Menschen, die glauben, dass es bei ihnen spukt. Ein Interview über Spuk, Geister und Psychologie.
jetzt.de: Herr von Lucadou, jedes Jahr melden sich etwa 3000 Menschen in der Beratungsstelle. Welcher Anruf hat bei Ihnen Spuren hinterlassen?
Lucadou: Ich erinnere mich an einen Fall, bei dem es bei einer Familie spukte. Die Mutter hatte sechs Kinder zu versorgen und war eine handfeste Frau. Ich habe eine Stunde lang mit ihr geredet, sie hat mir alles erklärt, es war ein Standardspuk . . .
jetzt.de: Was ist ein Standardspuk?
Lucadou: Gegenstände fliegen durch die Luft, abgeschlossene Türen gehen auf, man hört Geräusche, die keiner gemacht hat.
jetzt.de: Wie ging es weiter?
Lucadou: Ich stelle im Gespräch immer Standardfragen: In welcher Situation leben Sie? Wie alt sind Ihre Kinder? Dann schaue ich: Berichtet die Frau präzise und differenziert? Hat sie fixe Ideen? Die bewusste Frau war ganz normal, sie hatte keine Psychose, nichts. Es hat bloß bei ihr zu Hause gespukt. Nun waren ihre Kinder in der Pubertät, sie war alleinerziehend und hatte sehr viel Stress. Das war für mich ein wichtiger Anhaltspunkt. Sie fragte mich, was sie machen solle? Ich sagte: ,Wir müssten jemanden finden, der ihnen zu Hause hilft.‘ Allerdings war sie am anderen Ende der Republik und war von ihrem Hausarzt bereits zu einem Psychiater überwiesen worden. Und der hat sie in die geschlossene Anstalt überwiesen! Ich fand das unglaublich. Das ist doch tragisch, dass eine vollkommen klare, gesunde Person als psychotisch gelabelt wird, nur weil sie was erlebt, was wir allgemein nicht akzeptieren!
jetzt.de: Was ist dann passiert?
Lucadou: Ich habe den Psychiater angerufen und gefragt, was denn dann mit den Kindern geschehe? Er sagte: ,Na, die kommen in ein Heim.‘ Ich habe versucht, ihm zu erklären, warum die Frau nicht psychotisch ist. Aber er war ein Sturkopf. Nachher habe ich nie wieder von der Frau gehört.
jetzt.de: Ist das der Kern Ihrer Arbeit? Wollen Sie Menschen, die Spuk wahrnehmen, vor der Stigmatisierung bewahren?
Lucadou: Es gibt viele Skeptiker, die von vornherein wissen, dass das alles Unfug ist. Sie glauben bei Spuk entweder an Schwindel und Betrug oder daran, dass die Leute verrückt sind. Und natürlich gibt es Schwindel und Betrug und verrückte Leute. Aber die meisten, die sich bei mir melden, sind kerngesund.
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jetzt.de: Was erwarten die Menschen von Ihnen?
Lucadou: Sie werden im Wesentlichen immer wieder von den alten Menschheitsfragen getrieben. Wieso gibt es Spuk? Kann es sein, dass meine Ahnen noch hier sind? Wieso gibt es Wahrträume, in denen ich Ereignisse vorweg träume? Was ist nach dem Tode? Ist es schlimm, wenn mein Sohn Geister beschwört? Ursprünglich war die Beratungsstelle ja als Reaktion auf die Jugendokkultismuswelle eingerichtet worden . . .
jetzt.de: Gibt es den Okkultismus denn noch?
Lucadou: Ja, aber es steht nichts mehr dazu in den Massenmedien. Ein bisschen ist es auch der Arbeit der Beratungsstelle zuzurechnen, dass hier eine Versachlichung eingetreten ist. Jugendliche machen sowas, sie beschwören manchmal Geister oder rücken Gläser. Aber das gehört zu ihrer Entwicklung, die Sachen sind nicht schlimm, man kann damit umgehen.
jetzt.de: Ändern sich denn im Lauf der Jahre die Anfragen?
Lucadou: Es ändern sich die Einkleidungen des Spuks. Im Mittelalter war der Spuk ein Ausdruck von dämonischen Mächten. Da musste der Pfarrer kommen und das Haus aussegnen. Mit etwas Glück war es dann vorbei. Diese Teufelsinterpretation des Spuks gibt es immer noch. Viel häufiger wird aber die spiritistische Interpretation verwendet, derzufolge die Geister von Verstorbenen im Spuk ihr Unwesen treiben. Es gibt aber auch die animistische Interpretation, nach der die Seelenkräfte der Menschen die Phänomene auslösen. Andere sagen, das seien Täuschungen. Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, nicht mit solchen Standardeinkleidungen zu kommen.
jetzt.de: Was heißt das?
Lucadou: Wenn jemand behauptet, die Geister seiner Verstorbenen würden bei ihm im Haus spuken, dann ist das nicht irrational. Das ist der Versuch einer Erklärung. Es gibt viele, die paranormale Dinge religiös interpretieren und damit zurechtkommen. Für die sind das dann Wunder. Aber wenn eine Witwe glaubt, dass ein Spukphänomen vom verstorbenen Ehemann gemacht wird und die betreffende Frau hat sich mit dem Ehemann nie gut verstanden, dann ist es doch Unfug, der Frau die Einkleidung auf’s Auge zu drücken, das sei der verstorbene Ehemann, der da rumspukt. Wenn der Ehemann aber ein lieber Kerl war und die Witwe den Spuk als eine freundliche Geste betrachtet, dann wird man nicht so herzlos sein und sagen: „Das ist alles eingebildet.“
jetzt.de: Das ist die Interpretation des Spuks. Aber welche Erklärung gibt es für Schritte in der Decke?
Lucadou: Primär haben die paranormalen Phänomene etwas mit dem Menschen zu tun. Der Spuk ist ein sozio-psycho-physikalisches System. Als soziologisches Faktum wird der Spuk im Allgemeinen akzeptiert. Wo es hapert, ist, diese Dinge als physikalisches Faktum zu betrachten. Denn es passiert ja wirklich was da draußen – und nicht nur im Kopf.
jetzt.de: Hängen Kopf und das da draußen zusammen?
Lucadou: Das ist die interessante Frage, weil hier ein grundlegendes Paradigma der Neurowissenschaften hinterfragt wird. Die ist der Meinung, dass Gedanken, Vorstellungen oder Emotionen keine direkten physiologischen und physikalischen Auswirkungen haben. Es gibt aber die ersten Zweifel an der Annahme.
jetzt.de: Die Frage ist also, ob ein Gedanke ein Werkzeug sein kann?
Lucadou: Genau. Wir reden von einer psychosomatischen Reaktion, die nicht im eigenen Körper stattfindet. Nur gibt es bislang wissenschaftlich keine Verknüpfung von Psychologie und Physik.
jetzt.de: Wie verläuft ein Spuk normalerweise?
Lucadou: Er verläuft in vier Phasen. Die erste ist die Überraschungsphase. Da hören die Leute in der Wohnung Schritte, es ist aber niemand da. Türen gehen auf, niemand hat sie aufgemacht. Da sind die Phänomene am erstaunlichsten – sie müssen ja auch was ausdrücken. Die Leute sind aber der Meinung, dass es sich um Wahrnehmungsstörungen oder um Schabernack handelt. Dann machen sie sich auf die Socken, um rauszufinden, ob es Marder gibt, ob der Nachbar sich einen Scherz erlaubt. Schließlich werden Zeugen geholt. Erst wenn die nichts gefunden haben, kommt die Idee auf, dass es sich um etwas Paranormales handelt. Es beginnt die zweite Phase, die Verschiebephase. Sie haben Zeugen neben sich und wollen beweisen, dass immer um zwölf in der Wohnung drüber jemand rumläuft. Aber dann kommt das Phänomen nicht. Stattdessen fällt das Bild von der Wand.
jetzt.de: Warum das?
Lucadou: Das kann auch der Zeuge beobachten. Das ist typisch für den Spuk. Wenn sich die Leute auf die Lauer legen passiert etwas anderes. Es wird klar: Es ist etwas, was wir nicht richtig verstehen, aber es hat etwas mit der Anwesenheit einer bestimmten Person zu tun. Nennen wir sie Annemarie. Sie wird in der dritten Phase das Objekt der Begierde. Man jubelt sie als Seherin oder Hexerin hoch. Man setzt ihr zu. Aber plötzlich geschieht nichts mehr. Ich habe Kamerateams erlebt, die Annemarie deshalb bitten, ein Phänomen von Hand auszulösen. Irgendwann gibt sie dem Druck nach und jeder sieht, dass Annemarie das Phänomen selbst auslöst. Die Erwartungen sind enttäuscht worden. Annemarie, denken alle, hat inszeniert. In der vierten Phase wird der Spuk ausradiert. Alle glauben zu wissen, dass es Annemarie war. Möglicherweise wird sie vor Gericht gezerrt und man ist die Sache los. Selbst frühere Zeugen, die behauptet haben, sie hätten einen Stein fliegen sehen, sagen nun: ,Nein, ich kann mich nicht erinnern.‘ Und weil soviel ausradiert wird, besteht die landläufige Meinung, dass Spukfälle selten sind. Aber sie sind natürlich nicht selten.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Walter von Lucadou
jetzt.de: Haben Sie je einen Spuk live erlebt?
Lucadou: Meistens komme ich erst in der vierten Spukphase zu den Menschen, die einen Spuk haben. Ich erinnere mich trotzdem an einen Fall, bei dem immer Steine in der Gegend rumflogen. Ich war in der Wohnung und der Mann kochte eine Suppe und ich stand direkt neben ihm. Plötzlich flog über meine Schulter ein Kieselstein direkt in den Suppentopf. Es war niemand im Raum. Der Mann hat keinerlei verdächtige Bewegung gemacht. Ich wollte den Mann daran hindern, die Suppe wegzuleeren, aber er hat es gemacht. Er wollte sie nicht mehr essen, weil er glaubte, der Teufel habe die Hand im Spiel.
jetzt.de: Wo kam der Stein her?
Lucadou: Ich weiß es nicht.
jetzt.de: Sind wir zu feige, die Existenz von Spuk zu akzeptieren?
Lucadou: Die Gesellschaft sagt, dass solche Dinge nicht vorkommen dürfen. Was uns nicht in den Kopf will, muss weggeschoben werden. Dabei ist Spuk ein Phänomen, unter dem viele leiden.
jetzt.de: Die Abteilungen in den Buchhandlungen, die sich Esoterik und Sinnfragen zuwenden, wachsen. Wir haben ein Jahr hinter uns, in dem viele Menschen die Kirche verlassen haben, . . .
Lucadou: ... da müsste man eigentlich erwarten, dass sich die Leute der Parapsychologie zuwenden, nicht wahr?
jetzt.de: Ja.
Lucadou: Die Beobachtung ist richtig. Aber dadurch wird der Spuk nicht wahrscheinlicher. Eine Forscherin sagte einmal, Spuk sei eine Beleidigung des gesunden Menschenverstandes und des guten Geschmacks. Wenn der Spuk so wäre wie ein Wunder, wenn er religiöse Gefühle stützen würde, dann wäre er okay. Aber es passieren triviale Dinge, die nicht unser Weltbild erweitern. Was soll das, dass ich in meine Wohnung komme und da sind die Wände beschmiert und die Möbel liegen am Boden? Das erzeugt Aggression.
jetzt.de: Ist der Spuk für irgendwas gut?
Lucadou: Er ist eine Schutzfunktion, um keine psychosomatische Erkrankung zu kriegen. Die Leute leiten Stress nach Außen ab und dann spukt es.
jetzt.de: Also hat er seinen Wert.
Lucadou: Jede psychosomatische Reaktion hat eine Botschaft – dass ich zum Beispiel Ärger mit dem Chef habe, dass ich Stress habe, dass ich überfordert bin. Jeder Psychosomatiker sagt: ,Hören Sie auf die Botschaft ihrer Krankheit.‘ Ich sage: ,Hören Sie auf die Botschaft ihres Spuks.‘
jetzt.de: Nochmal zum physikalischen Teil des Spuks: Wie wird die Wand beschmiert?
Lucadou: Es gibt einen physikalischen Prozess, nach dem diese Brille vor mir auf dem Tisch nach oben fliegen kann. Dazu müssten gleichzeitig alle Moleküle der Brille in die gleiche Richtung schaukeln. Die Wahrscheinlichkeit dazu ist bei eins durch zwei hoch zehn hoch 24. Es kommt nicht vor. Aber in sogenannten verschränkten Systemen, die interagieren, gelten solche Wahrscheinlichkeiten nicht mehr. Solche Systeme nennt man auch „Sich selbst organisierende Systeme“. Ich behaupte, ein Spuk ist eine Selbstorganisation von einem sozio-psycho-physikalischen System. In diesem System gelten andere Wahrscheinlichkeiten. Dort sind Superfluktuationen möglich. Die Brille fliegt dann los, weil das als Superfluktuation vorkommen kann.
jetzt.de: Das klingt mindestens kompliziert.
Lucadou: Es ist eine Arbeitshypothese. Bisher hat die Parapsychologie angenommen, dass Psychokinese wie ein Signal wirke. Mein Modell geht von Verschränkungskorrelationen aus. Es werden nicht Signale sondern Muster übertragen, die bestimmte Eigenschaften haben und aufeinander passen können.
jetzt.de: Hat Sie je ein Anrufer ratlos hinterlassen?
Lucadou: Nein. Ich glaube nämlich, dass wir auf einer kleinen Insel in einem unendlichen Meer von Unverständnis erst ein paar Strukturen verstanden haben.
jetzt.de: Das heißt, dass Sie sehr viel für möglich halten.
Lucadou: Der Mensch ist ein Rätsel. Wir haben keine Chance, ihn zu verstehen. Das sage ich auch immer zu den Leuten, die einen Spuk haben: Regen Sie sich doch nicht so drüber auf. Wir verstehen sowieso nix von der Welt.
Text: peter-wagner - Fotos: complize/photocase.com; dpa