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Passanten-Poesie

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Klack, klack, klack, klack, klack. Die Hebel der mechanischen Schreibmaschine knallen gegen das weiße Papier. Davor sitzt Lynn, 28, mit abgeschnittenen Wollhandschuhen, durchsichtiger Brille, Bart und Afro. Seine Zeigefinger tippen gleichmäßig auf die Tasten. Zwischendurch hält er inne, blickt nach oben und nach ein paar Sekunden wieder aufs Papier. Sein Gesicht zeigt keine Regung. Klack, klack, klack, klack, klack.
 
We are no stereotypes
aided by hype
Battling the dreadful scene
Of schemes
That should be sniped



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New York, U-Bahn-Haltestelle Union Square, 18 Uhr abends. Menschenmassen hetzen durch die Tunnel, eingepackt in alle Klamotten, die übereinander passten. Draußen sind minus 20 Grad. In der Station zieht es. Auf dem Boden kleben zerquetschte Pommes, daneben liegen Mandarinenschalen und Fetzen der aktuellen New York Post. Durch die Gemäuer schallen Stimmen, das Piepen von Einlassschranken, das Kreischen der einfahrenden U-Bahnen – und das Klacken von Lynns alter Royal-Schreibmaschine, Baujahr 1955. Sie steht auf einem kleinen Tisch, an dem ein bemaltes Schild hängt: „Pick a subject. And a price. Get a poem“.

„Hey Dude, ich hab’ nur zehn Dollar. Geht das klar?“ fragt Eric, 26. „Was auch immer du zahlen möchtest, geht klar“, sagt Lynn in monotonem Bass. Eric kramt einen Schein aus seinem Rucksack. Er wünscht sich, dass Lynn über die schönen Mädchen in der U-Bahn schreibt, die immer schon weg sind, wenn Eric sich dazu überwunden hat, sie anzusprechen. Während Lynn tippt, gerät Eric ins Erzählen: „In New York siehst du alle zehn Minuten jemanden, der unglaublich schön ist, und jemanden, der total verrückt ist. Und nie kannst du dich entscheiden, wen du angucken sollst.“ Eric will später mal Kunstagent werden. Momentan führt er Hunde Gassi. Genauer gesagt, jeweils immer nur einen Hund. „Das ist meine Nische.“ Er zwinkert. Eric verdient etwa 1000 Dollar im Monat und muss jeden Penny dreimal umdrehen. Trotzdem unterstützt er Leute wie Lynn. Das ist typisch für diese Stadt: Wer hier etwas Originelles versucht, um sich über Wasser zu halten, wird nicht belächelt, sondern bestärkt. Eric zeigt auf Lynn. „Wir müssen zusammenhalten, yeah.“ Er nimmt sein Gedicht entgegen, legt die zehn Dollar auf den Tisch und verschwindet in der Menge. Lynn steckt den Schein ein und blickt nach vorn. Vor seinem Tisch hat sich eine Schlange gebildet. Sein Gesicht bleibt unverändert. Ruhig schraubt er ein neues Blatt Papier in seine Royal.

Eigentlich ist Lynn studierter Musiker. Aber das reichte nicht, um seine Frau und seine beiden Söhne zu ernähren. Seit 2009 verdient er sein Geld mit U-Bahn-Poesie. Das ist seine Nische. Unter den gut acht Millionen New Yorkern gibt es nur eine weitere Person, die etwas Ähnliches macht.

Fast jeden Tag fährt Lynn von Brooklyn nach Manhattan, klappt seinen Tisch auf und schreibt Gedichte. Mal vier Stunden lang, mal auch acht. Pro Gedicht bekommt er im Schnitt zehn Dollar. Pro Tag schreibt er mindestens 20 Gedichte. „Wir leben nicht in Luxus, aber ich kann alles bezahlen“, sagt er.

But life
as life is
Loved by those who give
Beyond the eyes
as one gains more
 
Brian ist an der Reihe. Er ist 18 und feiert heute Sechsmonatiges mit seiner Freundin. Sie hat ihm von „dem U-Bahn-Poeten“ erzählt, sich aber nie getraut, zu ihm zu gehen. Heute tut er es. Er hätte gern ein Gedicht zum Thema „One Love“. (Das Gedicht das sich hier durch den Text zieht.) Später will er ihr das schenken. Lynn guckt ihn an: „Hey man, how you doin’?“ Bevor er anfängt zu schreiben, unterhält er sich mit den Leuten. So bekommt er ein Gefühl für sie.

Wie man reagiert, wenn sich jemand ein Gedicht über Fisting bei Transsexuellen wünscht, erklärt Lynn auf der nächsten Seite.


Oper, Startups, Sex mit Transvestiten - alles Themen für Lynn


Der eigentliche Schreibprozess beginnt dann mit dem jeweiligen Thema. Mal ruft es ein Bild in ihm hervor, mal eine Geschichte, mal eine Erinnerung. „Außerdem achte ich darauf, wie die Person auf mich wirkt. Ich nehme das auf, in meinem Kopf entsteht ein Pfad und an diesem Pfad entlang entstehen die Zeilen.“ Lynn spricht, wie er tippt. Erst kommen die Worte langsam aber flüssig aus seinem Mund, dann macht er eine Pause, guckt nach oben, guckt wieder nach vorn und spricht weiter. Ein leeres Blatt Papier bereitet ihm keine Angst. „Ich habe eher ein Problem, wenn ich nicht schreibe. Nur manchmal, wenn mich ein Thema sehr berührt, muss ich mich anstrengen, nicht drumherum zu schreiben. Es geht immer darum, sich durch etwas hindurchzuschreiben.“

Eine große Blondine mit hohen Absätzen und pink lackierten Fingernägeln rauscht an der Schlange vorbei an den Tisch. „Hi, ich hätte gern ein Gedicht über das US-Militär und Drohnen. Ich unterrichte an der New York University und gebe gerade eine Vorlesung über Ethik und Technik.“ Lynn ist interessiert. „Ich habe mal ein Gedicht für eine UN-Mitarbeiterin geschrieben, die an einem Projekt über Drohnen und Frieden arbeitet. Ich habe ihre Nummer, kann ich Ihnen gern geben.“ Die Blondine freut sich und zückt ihr Smartphone. Dann geht sie zu einer jungen Frau und sagt: „Ich lasse ihn über Drohnen schreiben. Was ist dein Thema?“ Etwas verschüchtert antwortet sie: „Ich muss eine Rezension über ein Buch schreiben. Es geht um Marx. Ich lasse ihn über Marx in New York dichten. Ist doch witzig: Der Oberkommunist in der kapitalistischsten Stadt der Welt.“ Die Blondine lacht ein lautes Lachen. Lynn dreht das Drohnengedicht aus seiner Schreibmaschine und korrigiert mit einem Bleistift die Fehler. Dann reicht er es ihr. Sie gibt ihm 20 Dollar, liest es und ruft: „Awesome!“

Ob Lieferjunge oder Broker, ob jung oder alt – an Lynns Tisch versammelt sich ein Querschnitt der New Yorker Bevölkerung. Und jeder möchte sein ganz eigenes Gedicht. Am häufigsten geht es um die Liebe. „Da muss ich langsam aufpassen, dass ich nicht nach Schema F schreibe. Sobald ich merke, dass ein Muster entsteht, fange neu an“, sagt Lynn. Es kommen aber auch Leute, die Gedichte über ihr neues Startup-Projekt haben wollen, um sie dann auf ihre Webseite zu stellen. Oder welche, die anderen eine Freude machen wollen oder einfach geistigen Input suchen. „Gestern bat mich jemand um ein Gedicht für eine 91-jährige Frau, die so gern die Oper besuchte, es aber nicht mehr kann. Da ging es darum, die Oper für diese Lady einzufangen“, erzählt Lynn. „Und letztens wollte einer was zu ‚Gefistet von einem Transvestiten‘“. Selbst als er das sagt, verzieht er keine Miene. „Das war nur von außen betrachtet seltsam. Der Typ hat erotische Romane geschrieben und suchte nach Inspiration.“ Lynn hat auch einige Stammkunden. Manche wählen immer unterschiedliche Themen, manche wollen immer neue Gedichte zum selben Thema. „Eine Frau, die eine Fernbeziehung zu einem Mann in San Francisco führt, kommt mindestens einmal im Monat vorbei und lässt mich über ihre Beziehung schreiben.“
 
Eye in eyes
One love
as one life
as one life is all
called beyond the divides
That trap us thinking small
 
Shira kommt an den Tisch. Sie ist 28, studiert Zahnmedizin und trägt Boots von UGG, Armband von Tiffany, Tasche von Louis Vuitton. Sie beugt sich über den Tisch und setzt ein Lächeln auf: „Nun, ich hätte gern, dass du darüber schreibst, was dir in den Sinn kommt, wenn du mich siehst.“ Lynn löst die Situation elegant: „Weißt du, du erinnerst mich an die Schwester der besten Freundin meiner Frau.“ Sie lacht und steigt von einem Bein aufs andere. Lynns Blick verweilt kurz auf ihr, dann guckt er auf sein Blatt und macht sich ans Werk. Klack, klack, klack, klack, klack.     

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