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Papa ante portas
In Jonathan Franzens Roman „Die Korrekturen“ durchlebt die erwachsene Tochter der Familie Lambert bei Besuchen in ihrem Elternhaus immer die gleiche Abfolge von Gefühlen: Am ersten Tag ist sie voller Liebe und will keine Minute ohne die Eltern verbringen; am zweiten Tag wacht sie morgens auf und bekommt schon beim Gedanken an die Familienzeit schlechte Laune. Ich kenne das und habe mich mit den Jahren daran gewöhnt. Ich liebe meine Familie, aber Besuche der Kinder bei den Eltern haben nun mal eine anstrengende Dramaturgie, in der jeder wohl oder übel seine alte Rolle im Haus einnimmt und klar ist, wer das Sagen hat. Das alte Kinderzimmer und mütterliche Haushaltsregeln sorgen dafür, dass einem während dieser Zeit die Souveränität, die man mittlerweile erlangt hat, kurzzeitig wieder aberkannt wird. Man ergibt sich in sein Schicksal, lässt sich noch dazu ein bisschen hätscheln und reist ein paar Tage später wieder ab in die Welt der Selbstständigkeit. Doch wirklich erschrocken, zeitweise sogar zutiefst verunsichert hat mich das Rollenspiel außerhalb dieser Elternhaus-Hülle.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Meine Eltern besuchen ihre Kinder nicht oft. Hin und wieder schauten sie in unseren Studienstädten vorbei, man ging gemeinsam essen oder über den Weihnachtsmarkt. Nie dauerten diese Aufenthalte länger als einen Tag, nie übernachteten die Eltern bei einem von uns. Die gemeinsame Zeit war begrenzt, fröhlich und entspannt. Als ich dann einige Monate im Ausland verbrachte, nutzten meine Eltern die Gelegenheit für einen Urlaub. Ich freute mich auf sie und lud sie ein, statt im Hotel in meiner Wohnung zu schlafen. Am ersten Tag des Besuchs war ich euphorisch und herzlich. Am zweiten Tag wachte ich mit schlechter Laune auf. Das gleiche Muster. Und das hier! So weit weg von daheim!
Zum Teil lag es wohl an der räumlichen Nähe, dass ich mich immer wieder in Gefühlszustände versetzt sah, die mich an meine Pubertät erinnerten. Ich merkte schnell, dass nicht, wie zuvor gedacht, die Umgebung die Regeln macht, sondern die Personenkonstellation. Eltern bleiben Eltern. Sie fahren mit dem Finger über das staubige Regal und schütteln den Kopf, sie füllen den Kühlschrank auf, sie sagen Elterndinge. Da ist es egal, ob sie sich in den eigenen vier Wänden oder in denen des Kindes befinden. Und so okkupierten meine Eltern mein Reich. Viel eher noch ließ ich es von ihnen okkupieren, indem ich nicht in der Lage war, den staubigen Finger mit einem Scherz abzutun und stattdessen genervt mit den Augen rollte. Wie gerne hätte ich meinen Eltern die erwachsene Tochter vorgeführt, die ich war, sie aber sahen nur das trotzige Mädchen mit den rollenden Augen.
Noch problematischer wurde die Situation, weil ich mich zwar zeitweise als völlig unmündige Tochter fühlte, gleichzeitig aber auch immer wieder Verantwortung für meine Eltern tragen musste. Sie kannten die Stadt und das Land nicht, sie sprachen die Sprache nicht, vieles war ihnen fremd. Ich hatte durch meinen längeren Aufenthalt einen Vorsprung und wurde daher beinahe automatisch zu ihrer Reiseführerin. Eigentlich war das meine Chance, zum ersten Mal in dieser Konstellation diejenige zu sein, die die Ansagen macht. Meine Eltern baten mich ganz von selbst um Hilfe, vertrauten meinen Entscheidungen und nahmen sich meine Ratschläge zu Herzen. Doch wider Erwarten konnte ich mich über die Anerkennung, die sie mir für meine Organisation unserer Reisen durch das Land und für mein Zurechtfinden in der Fremde entgegenbrachten, nicht richtig freuen. Jedes Foto, das sie von mir bei Gesprächen mit Einheimischen machten, jedes Lob meiner Person und meiner Bemühungen im Beisein anderer beschämte mich – weil ich die trotzige Tochter in mir nicht loswurde und trotzige Töchter gegen alles trotzen, was Eltern sagen und tun. Teilweise war ich der Verzweiflung nahe, weil ich nicht wusste, wie ich die verschiedenen Versionen meines Ichs unter einen Hut bringen sollte. Mal brauchte Mama Hilfe, weil sie das Essen nicht vertrug, mal Papa, weil er nicht mit dem Taxifahrer kommunizieren konnte, dann gab es wieder Staub-auf-dem-Regal-Situationen und zwischendurch (denn auch das kam vor) wollte man doch einfach nur freundschaftlich beisammensitzen und über den Tag plaudern.
Das Schlimmste an der ganzen Sache war: Mein Verhalten widerte mich an. Am liebsten hätte ich meine Augäpfel festgehalten, damit sie nicht rollen können, am liebsten hätte ich mir den Trotz aus der Brust gerissen. Und wie gerne hätte ich das Lob meiner Eltern für gute Organisationsarbeit mit einem lächelnden „Danke, hab ich doch gern gemacht!“ angenommen, so, wie ich es bei jedem anderen getan hätte. Aber in mir tobte die Pubertät, als sei sie ein hässliches, wildes Tier, das unerwartet ausgebrochen war und auch vom verantwortungsvollen Wärter nicht gezähmt und eingefangen werden konnte. Obwohl es seine Aufgabe gewesen wäre. Und darum bekommt er Schuldgefühle. Ich bekam Schuldgefühle. Denn meine Eltern hatten die meiste Zeit über große Freude an ihrem exotischen Urlaub. Eigentlich wollte ich ihnen keinen Moment davon vermiesen und ihnen alles möglichst angenehm machen.
Nachdem sie abgereist waren und ich auf mein Verhalten zurückblickte, plagten mich das schlechte Gewissen und die Sorge, es könnte ihnen nicht gefallen haben. Und ich fragte mich, wieso die Eltern-Kind-Konstellation sich nicht einmal aufbrechen ließ, wenn man die Rollen tauschte und das Kind die Verantwortung übernahm.
Beim nächsten Telefonat war ich beim Klang der elterlichen Stimmen wieder ganz erwachsene Tochter in der Fremde und voller Zuneigung. Kann es wahr sein, dachte ich, dass ich diesen liebenswerten Menschen gegenüber mit den Augen gerollt habe? Vollkommen unmöglich!
Text: valerie-dewitt - Foto: o-zero / photocase.com